Sommerzeit wird auch dieses Jahr wieder Lesezeit sein. Darum sollten Sie endlich lernen, wie BÜCHERLESEN wirklich Spass macht. Zum Beispiel mit einem literarischen Blind Date.
NZZ am Sonntag, 12. Mai 2024 · Lesedauer 4 Min.
Wow, Sie sind schnell! Am Ende dieses Satzes haben Sie schon 14 Wörter verschlungen. Am Ende dieses nächsten Satzes sogar schon 21. Und Sie lesen auch nicht irgendwas, sondern die „NZZ am Sonntag“ – Champagner fürs Hirn. Doch mit Blick auf die kommende Sommerzeit, die ja bekanntlich Lesezeit ist, drängt sich eine wichtige Frage auf: Können Sie auch Bücher lesen?
„Natürlich“, werden Sie jetzt denken: „Ich lese seit Jahrzehnten Bücher.“ Und doch möchte ich wetten: Wie fast alle Menschen lesen auch Sie Bücher komplett falsch.
Beginnen wir mit dem häufigsten Fehler. Nämlich dem, ein langweiliges Buch zu Ende zu lesen, weil Sie davon ausgehen, dass es doch bestimmt noch interessanter werden muss. Die Wahrheit ist: Ein langweiliges Buch kann bis zur letzten Zeile so sehr anöden wie die Angabe der Druckerei im Impressum und der Hinweis: „Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.“ Schlimmer noch: Ein langweiliges Buch wird oft sogar noch langweiliger. Viele Autorinnen und Autoren schaffen dieses Kunststück mühelos.
Der zweite Grund, warum Sie schlechte Bücher unsinnigerweise beenden, ist dem Umstand geschuldet, dass das Lesen von Büchern kulturell überhöht wird – ein Relikt aus Bildungsbürgertagen, als die heimische Klassikerbibliothek mit goldgeprägten Lederrücken so selbstverständlich war wie heute WLAN.
Konkret: Würden Sie diesen Text noch immer lesen, wenn ich Sie furchtbar langweilen würde? Natürlich nicht. Bei Büchern aber fällt uns der radikale Abbruch der Lektüre schwer. Sicher: Romane, Lyrikbände oder Sachbücher kosten ein paar Franken, weshalb wir unsere Investition nicht abschreiben wollen. Aber warum neben dem Geld, das wir für das falsche Buch ausgegeben haben, auch noch jede Menge Zeit verlieren, weil wir irrtümlicherweise glauben, es beenden zu müssen?
Darum: Langweilt Sie ein Buch nach 20 Prozent der Seiten immer noch, dann klappen Sie es beherzt endgültig zu. Man liest nicht Bücher so, wie Männer in der Midlife-Crisis einen Marathon laufen – um es irgendwie, irgendwann doch noch über die Ziellinie zu schaffen. Man liest Bücher, um seelisch und geistig bereichert zu werden.
Damit das auch möglichst oft gelingt, zumindest bei Sachbüchern, empfehle ich die Nutzung einer genialen Erfindung. Sie heisst „Inhaltsverzeichnis“ und bringt uns zu einem zweiten Fehler, der oft gemacht wird. Nämlich dem, ein Buch linear, also Seite für Seite zu lesen. Stattdessen sollten Sie vom Inhaltsverzeichnis direkt in jene Kapitel springen, die Sie am meisten interessieren. Beim Lesen der übrigen Seiten werden Sie dann oft merken, dass man diese genauso gut hätte weglassen können. Tatsächlich sind der Inhalt eines Buchs und die Anzahl seiner Seiten nicht dasselbe. Vielmehr gilt das Pareto-Prinzip: 20 Prozent eines Buchs liefern 80 Prozent des Inhalts – nicht selten sogar noch mehr.
Ein weiterer Fehler, zu dem vor allem schöne Einbände verleiten, ist der, mit einem Buch so sorgfältig umzugehen wie mit einer Ming-Vase. Stattdessen sollten Ihre Bücher Eselsohren haben, eingerissene Seiten und dicke Unterstreichungen in allen Farben. Sind Sie mit den Ansichten der Autorin oder des Autors nicht einverstanden? Dann halten Sie Ihre Einwände in krakeligen Randnotizen fest, die über mehrere Seiten gehen. Ein Buch, das nach der Lektüre so aussieht, als hätten Sie es gerade aus der Schutzfolie gepellt, ist ein Buch, das Sie nicht richtig gelesen haben. Erst die kritische Auseinandersetzung mit den Ansichten von Autorinnen und Autoren sorgt dafür, dass sich eine Lektüre wirklich lohnt.
Ein letzter Tipp: Lassen Sie sich nur Romane schenken, die in neutrales Papier eingebunden sind, so wie früher die Schulhefte. Bitten Sie auch darum, dass mit einem scharfen Messer alle Seiten entfernt wurden, die den Titel des Buchs und die Autorin oder den Autor verraten könnten.
Nun dürfen Sie sich – komplett unbeeinflusst von Literaturkritiken und Bestsellerlisten – über ein literarisches Blind Date freuen. Lassen Sie sich auf Bücher ein, von denen Sie noch nicht einmal wissen, ob sie gerade erst erschienen oder 50 Jahre alt sind, ob sie auf Deutsch verfasst oder übersetzt wurden, ob sie von einer Autorin oder von einem Autor stammen. Verschlingen Sie Romane, die Sie eigentlich schlecht finden müssten, weil Sie sonst – angeblich – nichts von guter Literatur verstehen. Und lesen Sie umgekehrt Romane nicht zuende, die Sie eigentlich toll finden müssten, weil Sie sonst – angeblich – ebenfalls nichts von guter Literatur verstehen.
Bereit, beim Lesen von Büchern ein völlig neues Kapitel aufzuschlagen? Ich wünsche Ihnen ganz viel Spass und Gewinn dabei!
Beherzigen Sie Dominiks Tipps bei der Lektüre seiner eigenen Bücher.