S.O. F.A.D.

Depeche Mode: Irrglaube, erwachsen werden zu müssen


1983 schrieben DEPECHE MODE den perfekten Popsong. Mittlerweile machen sie länger mittelmässige Musik, als sie gute gemacht haben. Ein Abgesang.

Das Magazin, 25. März 2006 · Lesedauer 2 Min.

38 Sekunden, nachdem Depeche Mode am 18. Juni 1988 im Rose-Bowl-Stadion von Pasadena, Kalifornien, „Everything Counts“ zu spielen beginnen, passiert es: Zwischen zwei Liedzeilen blickt der Sänger der Band, Dave Gahan, kurz nach links und lächelt auf eine Art, die Erwachsenen sonst verwehrt bleibt, da man das sogenannte Engelslächeln nur von Säuglingen kennt. Aber Dave Gahan und seine drei Freunde Martin Gore (der Komponist und Texter der Band), Alan Wilder (der Soundtüftler) und Andrew Fletcher (der Manager) haben in den letzten Monaten 100 Konzerte gegeben, alle ausverkauft, alle vor jungen Menschen, die Schwarz trugen und jedes Wort mitsangen, und jetzt, bei ihrem letzten Auftritt, den der grosse D. A. Pennebaker filmt, singt Dave Gahan dieses Lied, das dem perfekten Popsong so nah kommt wie vielleicht noch „Blue Monday“ von New Order, „Don’t You Want Me“ von Human League oder „Fade To Grey“ von Visage, und er weiss: In 167 Sekunden wird Martin Gore auf seinem Synthesizer über die letzten Takte von „Everything Counts“ eine Melodie legen, die es weder auf der Single noch auf dem Remix noch auf der Albumversion dieser Komposition gibt, und 70’000 Menschen werden den Verstand verlieren.

Dann geht alles sehr, sehr schnell: Am 9. Oktober 1989, nur 16 Monate nach jenem denkwürdigen Auftritt, veröffentlichen Depeche Mode die Single „Personal Jesus“, auf der erstmals eine elektrische Gitarre zu hören ist, und was Martin Gore darauf greift, muss als rockiges Bluesriff bezeichnet werden. Ein Schock für die Fans der ersten Stunde, die die Alben der Elektropopper immer auch über Kopfhörer hörten, um die auf 56 Spuren liebevoll im Stereoraum verteilten Samples (der Pingpong-Ball auf „Pipeline!“, das Starten von Daves Porsche auf „Stripped!“) bis aufs letzte Hertz zu geniessen. Ein Schock, fürwahr, doch hatte man es kommen sehen: 176 Sekunden, nachdem Dave Gahan auf jene im Grunde unmögliche Weise gelächelt hatte, zeigte D. A. Pennebaker in seiner Konzertdokumentation, wie Depeche Mode in einem Musikladen vor einer Wand voller elektrischer Gitarren stehen.

1993, zehn Jahre nach „Everything Counts“, macht dann das Album „Songs Of Faith And Devotion“ klar, dass Depeche Mode vollends vom rechten Weg abgekommen sind: Zur E-Gitarre gesellen sich ein akustisches Schlagzeug und Gospelelemente, und um zu zementieren, dass die Band den Glauben an den perfekten Popsong verloren hat, schreckt sie auch nicht vor dem Einsatz von Backgroundsängerinnen zurück. In der Tat: „Songs Of Faith And Devotion“ – S.O. F.A.D. 13 Jahre nach ihrem ersten Plattenvertrag sind Depeche Mode beim musikalischen Einzeller angelangt: dem Stadionrock.

Und auf dieser Stufe sind sie auch noch 13 Jahre später: Während die Fans Madonnas ihr neues Album als das Beste feiern, was Frau Ciccone seit „True Blue“ von 1986 abgeliefert hat („Momente des reinen musikalischen Glücks“, eine Reise zurück zur „Strassengöre mit den musikalischen Killerinstinkten“, so die „Süddeutsche“), stellt sich auch bei Depeche Modes jüngster CD, „Playing The Angel“, kein Endlich-sind-sie-wieder-zurück-Gefühl ein.

Zurück bei sich selbst. Zurück aus dem Dunkel, in das sie der Irrglaube, erwachsen werden zu müssen, geführt hat.

Depeche Mode schafften einmal in drei Minuten, wozu Thomas Mann tausend Seiten braucht: die Liebe zum Leben mit der Sehnsucht nach dem Tod zu versöhnen. Nächsten Dienstag spielen sie im Zürcher Hallenstadion. Ich werde nicht hingehen.