Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte der Gewalt. MATTHEW WHITE hat jetzt ihre Opfer gezählt.
NZZ am Sonntag, 5. Februar 2012 · Lesedauer 4 Min.
Der Wälzer ist so gross und schwer, dass man damit jemanden erschlagen könnte. Das passt: Von den Perserkriegen bis zum Genozid an den Tutsi in Ruanda listet der Amerikaner Matthew White die 100 tödlichsten Gewaltakte der Weltgeschichte auf, und er führt gnadenlos Buch: Wen wir „gross“ nennen, der war es häufig auch im Töten (Alexander der Grosse, Peter der Grosse, Friedrich der Grosse), Kriege werden weniger wegen Gütern geführt als wegen Ideologien, und Gaddafi hatte Recht, nicht aufzugeben: Gemäss White werden zwar 9% aller Gewaltherrscher exekutiert, 8% fallen einem Attentat zum Opfer, 7% sterben in einer Schlacht und 4% bringen sich um, aber 8% überleben im Exil, 11% können friedlich zurücktreten und 49% herrschen munter weiter bis an ihr Lebensende.
Für sein Guinness-Buch der tödlichen Rekorde recherchierte der Amateurhistoriker White so gründlich wie kein akademisch geadelter Forscher vor ihm (allein das Quellenverzeichnis füllt 70 eng bedruckte Seiten). Das Resultat ist ein Kompendium des Schreckens, das durch Whites Zynismus noch eindringlicher wird: Im Kapitel über den Ersten Weltkrieg kommentiert er die Opferzahlen so: „Schlacht von Passchendaele: 150’000 Tote. Brachte ihr Tod etwas? Nö. Schlacht von Verdun: 305’000 Tote. Brachte ihr Tod etwas? Pustekuchen. Schlacht an der Somme: 306’000 Tote. Brachte ihr Tod etwas? Warum auch.“
White, der wie der Weihnachtsmann aussieht, wurde in den frühen Internet-Tagen bekannt mit seinem Historical Atlas of the Twentieth Century, einem Online-Mammutprojekt, das dem 54-Jährigen aus Richmond, Virginia, den Respekt von Geschichtsprofessoren eintrug. Als er auf seiner Webseite eine Liste der tödlichsten Kriege des 20. Jahrhunderts veröffentlichte, lösten die von ihm ermittelten Opferzahlen so heftige Debatten aus, dass White beschloss, seine Studie auf die letzten 2500 Jahre auszudehnen. Knietief watete er dafür durch das Blut von 455 Millionen Toten, wie White bilanziert: mehr als 80’000 für jeden Buchstaben dieses Texts. Besonders aufschlussreich erwiesen sich für ihn nicht wie erwartet Militär-, sondern Steuerarchive: Einen General mag die genaue Anzahl toter Soldaten und Zivilisten nicht kümmern, einen Finanzminister hingegen schon, da danach weniger Bürger Steuern zahlen.
Als White nach jahrelanger Arbeit alle Opferzahlen beisammen hatte, nutzte er seine andere grosse Leidenschaft, die Statistik, um die Höhe der Leichenberge miteinander zu vergleichen. Ein paar seiner Erkenntnisse:
• Die blutigste Religion ist die christliche. Nur gegen eine Glaubensgruppe führten Christen öfter Krieg als gegen Muslime und Juden – gegen Christen mit einer anderen Konfession.
• Leben wie Gott in Frankreich? Sterben wäre zutreffender. Kein anderes Land war so häufig in Kriege verwickelt wie die Grande Nation. Nicht immer weil die Franzosen mit dem Morden angefangen hatten – sie wurden auch sehr häufig angegriffen.
• Würden die Frauen die Welt regieren, wäre sie nicht friedlicher. Zwar sind weibliche Herrscherinnen für weniger Tote verantwortlich als Männer wie Dschingis Khan, Stalin oder Hitler: Die französische Königin Katharina von Medici, die österreichische Kaiserin Maria Theresia oder Maos Ehefrau Jiang Qing gehören aber ebenfalls zu den todbringendsten Menschen aller Zeiten.
• Kurios: Diktatoren werden häufig nicht in dem Land geboren, über das sie später herrschen: Napoleon war Korse, nicht Franzose. Stalin war Georgier, nicht Russe. Hitler war Österreicher, nicht Deutscher.
• Einer der derzeit gefährlichsten Konfliktherde ist die Grenzregion zwischen Indien und Pakistan, beides Atommächte. Trotzdem dürfen wir hoffen, dass zumindest die Inder keinen Krieg beginnen: Kaum eine andere Religionsgruppe ist historisch betrachtet so friedlich wie die Hindus. Die Heiligen Kriege der Christen und Muslime sind ihnen fremd.
• Chaos ist tödlicher als Tyrannei. Zwar sind Autokraten wie Idi Amin oder Saddam Hussein grausame Schlächter, viel gefährlicher aber sind Zeiten, in denen es nicht zu viel staatliche Autorität gibt, sondern zu wenig, wie zum Beispiel in Bürgerkriegen oder bei Revolutionen.
• Monarchen sind friedlicher als Emporkömmlinge. Die grössten Despoten aller Zeiten (Dschingis Khan, Napoleon, Stalin, Hitler, Mao) hatten ihre Macht nicht in die Wiege gelegt bekommen, sondern an sich gerissen.
• Trotz immer tödlicheren Waffen und immer brutaleren Ideologien wird die Welt nicht immer gefährlicher. Zwar wurden im 20. Jahrhundert mehr Menschen getötet als in jedem anderen zuvor, doch rührt dies daher, dass es früher weniger Menschen gab. Prozentual gesehen starben im letzten Jahrhundert „nur“ 3.5% der Bevölkerung in Kriegen, bei Genoziden oder unter Tyrannen – deutlich weniger als die 15% der Menschen, die in vorstaatlichen Stammeskulturen gewaltsam ihr Leben verloren.
Für White, der als Bibliothekar arbeitet, dem wohl friedlichsten Beruf, den man sich vorstellen kann, sind solche Erkenntnisse Elemente einer neuen Wissenschaft, die er „Atrocitology“ nennt: die Lehre der Gräuel, die Theorie des Schreckens. Ihre wohl traurigste Erkenntnis überrascht nicht: Bei bewaffneten Auseinandersetzungen sterben mehr Zivilisten als Soldaten. White bringt dies mit einem Satz auf den Punkt, der so lapidar ist, dass er von Caesar stammen könnte (dessen Feldzüge gegen die Gallier belegen mit 700’000 Toten Platz 61 der 100 tödlichsten Ereignisse): „In einem Krieg“, schreibt White in seinem „Worst-of“ der Menschheit, „ist die Armee der sicherste Ort.“