Ich tötete Niklaus Meienberg

Vor 25 Jahren führte ich das letzte Interview mit dem grossen Schweizer Journalisten NIKLAUS MEIENBERG (1940–1993). Und liess ihn dann wissen, wie man sich am besten umbringt.

Weltwoche, 20. September 2018 · Lesedauer 7 Min.

Als er dasitzt, am Nachmittag des 27. Augusts 1993 im Restaurant Kropf in der Zürcher Altstadt: eine Plaudertasche. Ihm sei schwindlig, sagt Meienberg und wird den Hut, den er trägt, während des achtstündigen Gesprächs nicht abnehmen.

Anekdoten reihen sich an Anekdötchen. Vor allem über Berufskollegen lästert der grosse Journalist. Scheisskerle die meisten, Schweinehunde.

Noch einmal Salzbrezeln und Bier. Das hilft. Meienbergs Antworten beginnen, sich auf die Fragen zu beziehen, die ein Kollege und ich stellen. „Wir brauchen eine gescheitere, witzigere Art von Journalismus“, sagt Meienberg. „Reportagen sollen als Geschichten erzählt, persönliche Erlebnisse nicht ausgespart werden. Niemand soll tun, als hätte er die absolute Wahrheit.“

Dann kommt er auf den zweiseitigen Artikel über ihn zu sprechen, der im März 1993 in der NZZ erschien. „Linker Gesinnungsjournalismus“, stand darin. „Hohles Dröhnen“. „Ein Gefangener seines Werks“.

„Es wäre anständig gewesen, mir die Möglichkeit einer Richtigstellung zu geben“, sagt Meienberg. „Ich wäre daran interessiert, mit dem Bürgertum – soweit es überhaupt noch existiert – einen offenen Dialog zu führen.“ Er vermutet, dass der Artikel ein Racheakt von NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer war, dessen Ernst-Jünger-Biographie Meienberg im „Spiegel“ verrissen hatte.

Halb zwölf Uhr nachts. Wir schlendern durch die Zürcher Altstadt, Meienberg mit Zigarre. In der Stadelhofer Passage will er bei Roger Schawinski klingeln. „Dass ausgerechnet der jetzt in Max Frischs Wohnung sitzt!“


ZWEI TAGE SPÄTER, es ist Sonntag, ruft Meienberg an. Ob ich bei ihm vorbeischauen könne? Warum, bleibt unklar.

Wir treffen uns am Bahnhof Oerlikon und schlendern zur Eisfeldstrasse 6. Im September 1992 schlugen ihn Nordafrikaner vor der Haustür nieder und traten ihm noch in die Augen, als er schon wie tot am Boden lag.

„Kurz zuvor hatte ich eine kritische Reportage über Esoterik-Seminare im Berner Oberland veröffentlicht“, sagt Meienberg. „Später riefen mich dann mehrere Teilnehmer an und meinten: Dir ist ja wohl klar, wer dich hat verprügeln lassen. In Zürich zwei Schläger anzuheuern, kostet ja tatsächlich nicht viel.“

Nächstes Thema: Meienbergs Motorradunfall in der Nähe von Toulouse im Juni 1993. Einer sei ihm reingedonnert, sagt er. Wer, sei längst bekannt. Irgendein hohes Tier, einer der Unbelangbaren. Morgen müsse er wieder zum Arzt. In der Ecke klebt Meienbergs Visitenkarte aus den Tagen im Pariser „Stern“-Büro an der Wand.

Wir sitzen da und trinken Wein. „Von dem hat mir Max Frisch immer ein paar Kisten zu Weihnachten geschickt.“ Dann breitet Meienberg Korrespondenzen aus, kopiert oder im Original. „Ich will meine Briefe immer zurück, wenn eine Beziehung in die Brüche gegangen ist.“ Eineinhalb Kilo Liebesbriefe habe er.

Während Stunden gehen wir Ordner durch – ein Nachlass zu Lebzeiten. Seinen ärgsten Feinden schreibt Meienberg in gedrechseltem Französisch. Weil sie so erst herausfinden müssen, wie sehr er sie verachtet. Dann bringt er eine Kiste voller Zeitungsausschnitte („Hat mir jemand zugeschickt“). „Meienberg, der Starschreiber“, steht da. „Meienberg, das enfant terrible“.

Er schleppt weiter an. Wie eine Katze, die stolz die erlegten Vögel und Mäuse präsentiert. „Hier der Brief von Otto Coninx, 15 Jahre Schreibverbot beim Tagi.“ Dann holt Meienberg die Briefe und Faxe hervor, die er im Februar 1991 an Staatsmänner wie François Mitterrand oder Václav Havel schickte, um den Krieg gegen Saddam Hussein zu stoppen. Seiner Überzeugung nach drohte dieser, in einem Dritten Weltkrieg zu enden.

Zuletzt trägt Meienberg Gedichte vor. Apollinaire, den auch seine Todesanzeige zitieren wird, und eigene, aus der „Geschichte der Liebe und des Liebäugelns“. Die Lampe wirft seinen grotesken Schatten an die Wand.


ALS ICH MICH AUFMACHE, es ist fast Mitternacht, murmelt Meienberg zwischen Tür und Angel: „Ein Freund von mir, ein alter Mann, hat Krebs – unheilbar. Er will nicht mehr leben. Weisst du, wie man sich schmerzlos umbringt?“

Warum fragt Meienberg ausgerechnet mich – einen jungen Mann, den er gerade erst kennengelernt hat? Warum ist eine Bekannte von mir Krankenschwester? Warum frage ich sie nach einem Todesrezept? Warum gibt sie mir Auskunft? Warum rufe ich Meienberg ein paar Tage später an und teile ihm das Ergebnis meiner Recherchen mit?

Schlaftabletten, Zäpfchen gegen das Erbrechen, einen Plastiksack über den Kopf.

Wusste ich, dass Meienberg von sich sprach? Natürlich nicht. Fragte ich mich, ob der „alte kranke Freund“ er selbst sein könnte? Ja, das tat ich. Aber der Wunsch, dem grossen Autor mit einer Auskunft zu dienen, überwog die Sorge, dass ich ihm helfen könnte, sich das Leben zu nehmen.

Indem ich Meienberg eine wichtige Information lieferte, wollte ich dafür sorgen, dass aus unserer Bekanntschaft eine Freundschaft wurde.


SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH, 16. September 1993, Premiere einer Neuinszenierung von Schillers „Die Räuber“.

Gegen ein oder zwei Uhr nachts kommt Meienberg in den Keller. Setzt sich zu den Jungen, zu den Frauen. Einmal mehr erzählt er von seinem Töffunfall, von seiner Wunde am Kopf. „So lang war sie.“ Es ist nichts zu sehen.

Als wir uns verabschieden, frage ich ihn, wie viele Belegexemplare er nach Erscheinen des Interviews wolle. „Eineinhalb.“

Nur Tage später nimmt sich Meienberg in seiner Wohnung in Oerlikon das Leben. Mit: Schlaftabletten, Zäpfchen gegen das Erbrechen, einem Plastiksack über dem Kopf.


NACHTRAG

Philippe Zweifel – Kulturredaktor beim „Tages-Anzeiger“ – wollte es genauer wissen und hat bei Dominik Imseng nachgefragt (hier erschienen).

Wieso kommen Sie 25 Jahre nach Meienbergs Suizid mit dieser Beichte?
Das ist der Grund: dass sich sein Tod jährt.
Da könnte man auch eine Huldigung schreiben.
Dafür gibt es Leute, die ihn besser kannten. Mir ging es um die Möglichkeit, an Meienberg zu erinnern. Die Jungen kennen ihn gar nicht mehr, und auch sonst scheint er in Vergessenheit zu geraten.
Haben Sie Schuldgefühle?
Nein, nein, ich schlafe gut. Aber wenn mich heute jemand fragen würde, wie man sich umbringt, würde ich ihm keine Tipps geben. Wenn jemand unbedingt Suizid machen will, macht er dies ohnehin.
Wieso hat Meienberg ausgerechnet Sie wegen einer sicheren Suizidmethode gefragt?
Das fragte ich mich auch. Wieso sich auf das Wort eines 25-jährigen Studenten und Nichtmediziners verlassen? Handkehrum richtet man eine solche Frage nicht an gute Freunde, weil diese sonst alarmiert wären. Ich nehme aber an, dass er anderweitig recherchiert hat und sich durch meine Methode bestätigt sah. Es ist ja auch so, dass sich Meienberg in den letzten Monaten seines Lebens auffällig oft mit jungen oder eben auch fremden Menschen umgeben hat. Vielleicht, weil sich einige seiner alten Freunde von ihm wegen seiner Ansichten zum Golfkrieg distanziert hatten.
Wieso haben Sie ihm Auskunft gegeben?
Aus einer Mischung von Naivität, Dummheit und Gefallsucht heraus. Im Nachhinein ist mir das klar, auch, dass ich mir davon ein vertrautes Verhältnis mit ihm erhoffte.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von seiner Suizidmethode hörten?
Ich erfuhr davon erst viele Jahre nach seinem Tod, als ich Marianne Fehrs Meienberg-Biografie las. Ich empfand die ganze Geschichte als surreal.
„Ich habe Niklaus Meienberg getötet“ lautet der Titel Ihres Texts. Kann man das als Selbstdarstellung sehen?
Das wäre traurig, wenn ich mich 25 Jahre später mit einer solchen Geschichte profilieren müsste. Ich bin ja gar nicht im Journalismus tätig. Ausserdem dachte ich, dass der Artikel in einen Schwerpunkt eingebettet würde. Als Werber habe ich aber nichts gegen zugespitzte Titel. Und die ganze Geschichte ist ja auf bizarre Weise interessant.
Wieso haben Sie Ihren Text eigentlich in der „Weltwoche“ veröffentlicht? Die wäre heute nicht gerade Meienbergs Lieblingslektüre.
Wer weiss? Er wäre ja nicht der Einzige, der seither einen politischen Wandel durchgemacht hätte. Und er war schon zu Lebzeiten nicht immer einig mit der Linken. Vielleicht wäre Meienberg heute noch unberechenbarer als damals. Doch das ist Spekulation. Fakt ist, dass er für die „Weltwoche“ geschrieben hat. Die Platzierung meines Artikels ist dort sicherlich nicht ketzerisch.