
Er war der originellste Werber aller Zeiten. HOWARD LUCK GOSSAGE, der vor 50 Jahren Facebook und Twitter vorwegnahm, wäre dieser Tage 100 geworden.
Weltwoche, 24. August 2017 · Lesedauer 6 Min.
Zielgruppe. Strategie. Kampagne. Die Sprache der Werber offenbart, dass sie Krieg führen. Einen Krieg um die Aufmerksamkeit der Menschen. Einen Krieg um ihre Herzen.
In der Geschichte dieses Kriegs ist der Amerikaner Howard Luck Gossage Achill – ein mythischer Superheld und Einzelkämpfer. Vor 50 Jahren nahm er es mit allen auf, die zu wissen glaubten, wie man erfolgreich Werbung macht.
Sein mächtigster Feind war Rosser Reeves, Chef der riesigen Agentur Ted Bates und Vater einer Idee, von der Sie schon gehört haben: Reeves ersann den USP, die Unique Selling Proposition, die einzigartige Verkaufsbotschaft. Damit brachte er seine Überzeugung auf den Punkt, dass Werbung nur Sinn macht, wenn sie ein Alleinstellungsmerkmal anpreist, also etwa: „M&Ms schmelzen im Mund, nicht in der Hand.“
Eine berechtigte Forderung. Das Problem aber war, dass Reeves’ Kampagnen den jeweiligen USP völlig einfallslos inszenierten. Vor allem seine TV-Spots für das Schmerzmittel Anacin taugten wegen der ständigen Betonung der raschen, raschen, raschen, raschen, raschen Wirkung des Medikaments als Foltermethode.
Eine Ironie, die Reeves entging. Nicht aber Howard Luck Gossage. Darum entwickelte er eine Werbephilosophie, die statt auf Einfalt auf Kreativität setzte, statt auf Wiederholung auf Charme und vor allem: statt auf Monolog auf Dialog.
Das klassische Kommunikationsmodell der Werber in den 1960er Jahren war ja folgendes: Ein Unternehmen schaltete einen TV-Spot, den Millionen von Zuschauern garantiert sahen. Schliesslich sass die ganze Familie vor dem gerade erst gekauften Fernseher und verfolgte begierig das Geschehen auf einem der wenigen Sender, die er empfing – Werbung als Geiselnahme.
Das war Gossage zu einfach – und zu wenig. Statt Einweg- wollte er Mehrweg-Kommunikation. Die Empfänger einer Werbebotschaft sollten auf diese reagieren, gleichsam den Ball zurückspielen können. Zwischen Unternehmen und Menschen sollte ein echter Dialog entstehen.
Wenn Ihnen das wie die Grundidee für Werbung auf Facebook und Twitter erscheint, haben Sie vollkommen recht. Doch wie konnte Gossage diesen Dialog in den 1960er Jahren ermöglichen? Es gab ja noch kein Internet.
Die Lösung war folgende: Gossage setzte konsequent auf Anzeigen statt auf TV-Spots, und jede seiner Anzeigen enthielt einen Coupon, den man ausschneiden, in einen Umschlag stecken und an das jeweilige Unternehmen schicken konnte.
Das wäre an sich noch nichts Besonderes. Coupons gab es in der Werbung schon lange. Jeder, der etwas verkaufen wollte, bot dadurch den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, das beworbene Produkt zu ordern. Doch Gossage nutzte Coupons auf völlig neue Art – nicht als Verkaufsinstrument, sondern als Konversationskanal. „Schreiben Sie uns doch einfach gelegentlich, wie es Ihnen geht“, schlug er etwa in einer seiner Anzeigen vor.
Die übertriebene Herausstellung der (angeblichen) Vorzüge eines Produkts sucht man in seinen Texten denn auch umsonst. Tatsächlich war Gossage gerade darum einer der erfolgreichsten Werber seiner Zeit, weil er gar nicht offensichtlich etwas verkaufen wollte. Nehmen wir etwa die Schlagzeile, die er für die Tankstellenkette Fina textete: „Wenn Sie die Strasse herunterfahren und Sie sehen eine Fina-Tankstelle und sie ist auf Ihrer Seite, so dass Sie keine Spitzkehre machen müssen, und es warten auch nicht sechs Autos und Sie brauchen Benzin oder sonst etwas, dann halten Sie doch bitte an.“
Wie konnte man nicht so viel vornehme Zurückhaltung lieben und das nächste Mal bei Fina tanken?
Nicht nur Fina profitierte von Gossages neuer Kommunikationsphilosophie. Auch für das Wissenschaftsmagazin „Scientific American“ entwickelte er eine Kampagne, die mit allen Regeln der Werbung brach – und gerade darum extrem erfolgreich war.
Gossage sollte dafür sorgen, dass in der Zeitschrift mehr Fluggesellschaften Inserate schalteten. Normalerweise würde eine Werbeagentur jetzt eine Kampagne entwickeln, die verdeutlicht, wie reisefreudig und einkommensstark die Leserinnen und Leser von „Scientific American“ sind.
Gossage aber wählte eine völlig andere Strategie. Überzeugt, dass Werbung zu schalten kein Recht ist, das man sich erkauft, sondern ein Privileg, das man sich verdient, fragte er sich: Was für eine Kampagne würde nicht nur potenzielle Inserenten aus der Flugbranche ansprechen, sondern ganz allgemein die Zeitschrift „Scientific American“ ins Gespräch bringen?
So entstand „The Great International Paper Airplane Competition“ (der grosse internationale Papierflieger-Wettbewerb). Schliesslich sah ja, fand Gossage, die revolutionäre neue Concorde wie ein klassischer Papierflieger aus. Gut möglich also, dass in einem neuen Typ Papierflieger die Zukunft der Luftfahrt steckte.
Der PR-Rummel, den der Wettbewerb auslöste, sorgte nicht nur dafür, dass etliche Fluggesellschaften „Scientific American“ als Werbemedium entdeckten – die gelungensten der 11’851 eingesandten Papierflieger füllten auch die Seiten eines Buchs, das zum Bestseller wurde.
Während Gossages smarte neue Werbung die Kassen seiner Kunden zum Klingeln brachte, zog sein unkonventioneller Geist Künstler und Intellektuelle an. So schaute etwa der Schriftsteller John Steinbeck genauso regelmässig bei ihm vorbei wie der Regisseur John Huston oder der visionäre Architekt Buckminster Fuller.
Ein weiterer häufiger Gast im „Fire House“ – der ehemaligen Feuerwehrstation, in der sich Gossages kleine Werbeagentur befand – war der Medienphilosoph Marshall McLuhan („The medium is the message“).
Gossage hatte seine Werke entdeckt, als McLuhan noch ein unbekannter Professor in Kanada war. Da klingelte auf einmal spät am Abend bei ihm das Telefon. „Wollen Sie berühmt werden?“, fragte eine unbekannte Stimme. Wenig später war McLuhan dank Gossages PR-Genie einer der gefeiertsten Intellektuellen seiner Zeit.
Auch Gossage selbst dachte brillant über Medien nach, insbesondere – wen wundert’s – über kommerzielle Kommunikation. Sein gerade neu aufgelegtes Buch „Ist die Werbung noch zu retten?“ macht deutlich, dass der Amerikaner nicht nur ein grossartiger Werber war, sondern auch ein grossartiger Werbekritiker. Und das zu Recht. Nur wer mit Werbung scharf ins Gericht geht, kann sie besser machen.
Dass ein Intellektueller, der zufällig auch ein Werber war, nicht nur für Tankstellen oder Fluggesellschaften die Trommel rühren mochte, leuchtet ein. Darum engagierte sich Gossage auch für den Sierra Club, eine der ersten amerikanischen Umweltschutzorganisationen.
In mehreren Anzeigen prangerte er den Plan der Kennedy-Administration an, den Grand Canyon für einen Staudamm zu fluten. Und da waren sie wieder, Gossages berühmte Coupons, einmal sogar gleich sieben in einer einzigen Anzeige. Die konnte man an diverse Politiker schicken, mit der Bitte, sich gegen den geplanten Staudamm zu wehren. Einer der Coupons war sogar für Kennedy selbst bestimmt.
Brillant – aber auch unter der Gürtellinie, denn Gossage hat in seiner Kampagne für den Sierra Club dreist gelogen. Ein Wasserkraftwerk im Grand Canyon wäre zwar ökologisch bedenklich gewesen. Die Behauptung, eines der Wahrzeichen der USA würde dadurch geflutet, war aber blanker Unsinn. Der Zweck hatte die Mittel geheiligt.
Trotzdem ist Gossage der Schutzpatron all jener Werber (und es sind wenige), die mit ihrer Arbeit nicht die Intelligenz der Menschen beleidigen wollen und sich der gesellschaftlichen Verantwortung ihres Berufs bewusst sind.
„Es ist tödlich, aber nicht ernsthaft“ – mit diesen Worten eröffnete Gossage 1968 seinen Nächsten, dass er unheilbar an Krebs erkrankt war. 18 Monate später starb der Mann, der auch mal mit rosa Luft warb oder ein Känguru verloste, mit nur 51 Jahren an Leukämie.
„Über ihn wird man noch in Jahren Geschichten erzählen“, meinte der Autor Tom Wolfe bei Gossages Beerdigung. Die schönste schrieb vor ein paar Jahren der Brite Steve Harrison mit einer grandiosen Gossage-Biographie. Ihr Titel war der Leitspruch des Ausnahmewerbers: „Changing the world is the only fit work for a grown man“.
Die Welt zu verändern, ist die einzige angemessene Arbeit für einen Erwachsenen.