„Ohne Dings kein Bums“

Die Schweiz reagierte sehr spät auf die AIDS-EPIDEMIE der 1980er Jahre. Aber dann tat sie es mit einer Kampagne, deren Direktheit die Experten anderer Länder vor Scham erröten und vor Neid erblassen liess.

Erschienen in: „Positiv: Aids in der Schweiz“, herausgegeben von Constantin Seibt (Echtzeit, 2018)

„Werbung ist zu 99% Abfall, der sich über Sie ergiessen will.“ Das sage nicht ich. Das sagt Lee Clow, einer der besten Werber der Welt.

STOP AIDS gehört zum einen Prozent Werbung, das nicht aufdringlich, dümmlich und ärgerlich ist. Die Kampagne startete 1987, doch die Aids-Prävention begann in unserem Land schon ein paar Jahre früher.

1983, als die Krankheit noch hauptsächlich Homosexuelle zu betreffen schien, begannen Schweizer Schwule mit der Präventionsarbeit. Zusammen mit engagierten Ärzten führten sie Informationsveranstaltungen durch, gaben Flugblätter und Broschüren heraus, lancierten Beratungsstellen.

Die Aids-Prävention von Schwulen für Schwule blieb im Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht unbemerkt. Im Mai 1985 lud es Vertreter verschiedener Homosexuellengruppen nach Bern ein und eröffnete ihnen, dass es ihre Präventionsarbeit finanziell unterstützen würde. Dies aber unter einer Bedingung: Das BAG wollte nicht unzählige lokale Ansprechpartner haben, sondern einen einzigen nationalen. Darum gründeten am 2. Juni 1985 14 Schwulenorganisationen und der Verein Schweizer Drogenfachleute die Aids-Hilfe Schweiz (AHS) im Restaurant „Au Premier“ im Zürcher Hauptbahnhof.

Ein Lokal mit dem Namen „Au Dernier“ wäre der passendere Ort gewesen. Tatsächlich erhielt unser Land als eines der letzten in Westeuropa eine nationale Aids-Organisation. Umso effizienter ging die AHS – nun vom Bund mit einem Budget von einer Million Franken ausgestattet – gegen die weitere Ausbreitung der Seuche vor.


Lustbringer statt Liebestöter

Die Präventionsarbeit für die Zielgruppe der Schweizer Schwulen begann – wie jede erfolgreiche Kommunikationskampagne – mit der Formulierung der richtigen Botschaft, in diesem Fall: „Bumsen immer mit Gummi.“

Der medizinische Hintergrund dafür war klar: Das grösste Risiko, sich bei schwulem Sex mit HIV zu infizieren, bestand bei ungeschütztem Analverkehr. Das Problem aber war: Bis anhin waren Kondome etwas, was Schwule so wenig brauchten wie ein Inuit einen Kühlschrank. Kondome sind ein Verhütungsmittel, und dass bei schwulem Sex nicht verhütet werden muss, ist offensichtlich.

Dennoch schaffte es die Aids-Hilfe Schweiz, dass die Schwulen die Botschaft „Bumsen immer mit“ nicht nur hörten, sondern auch befolgten. Wie das gelang? Mit einer grossartigen Idee.

Im November 1985 wurde der Hot Rubber lanciert – der erste Pariser für den schwulen Mann. Er wurde im Doppelpack (unter dem Motto „Sicherheit für beide“) für einen Franken verkauft, damals ein konkurrenzlos günstiger Preis.

Schon das Logo der neuen Kondom-Marke machte klar, dass der Hot Rubber kein Liebestöter, sondern ein Lustbringer war: Der Grafiker – oder die Grafikerin? – hatte die b in „Rubber“ wie einen Hoden gestaltet, und zwischen dem „The“ und dem „Hot“ ragte stolz ein steifer Penis empor.

Zu kaufen gab es den heissen Gummi nicht in drögen Apotheken, sondern in einschlägigen Bars und Saunen. Beworben mit humorvollen Plakaten und Inseraten (eines der Motive zeigte den Pariser über einer Banane), avancierte der Hot Rubber zum Verkaufsschlager in der schwulen Subkultur.

Im Rückblick präsentiert sich die frühe Präventionsarbeit der Aids-Hilfe Schweiz wie die Abteilung „Forschung und Entwicklung“ der späteren STOP AIDS-Kampagne. Die gewonnenen Einsichten:

a) Es bringt nichts, sexuelle Vorlieben zu verbieten (wie etwa den Analverkehr unter Schwulen). Stattdessen muss man sie sicherer machen.

b) Je unmissverständlicher eine Handlungsanweisung, desto eher wird sie befolgt.

Und c) Kreativität ist eine Wunderwaffe. Das bewies die Lancierung des Hot Rubber. Und das sollte auch STOP AIDS beweisen.


Homo oeconomicus vs. Homer Simpson

Während die Aids-Hilfe Schweiz den Fokus der Präventionsarbeit auf Schwule und Heroinabhängige legte, wandte sich das BAG im März 1986 erstmals an die gesamte Schweizer Bevölkerung – mit einer Informationsbroschüre, die an alle Haushalte ging.

Die Wirksamkeit dieser Massnahme wurde vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Lausanne geprüft, das mehrere telefonische Befragungen durchführte. Diese zeigten, dass eine einmalige Information der Bevölkerung nicht genügen würde, um eine nachhaltige Verhaltensänderung zu bewirken. Zwar hatten die meisten Befragten die Broschüre gelesen und wussten nun, dass Kondome vor Aids schützten. Doch Wissen und Tun sind zwei verschiedene Dinge. Der Mensch ist nicht immer ein vernünftiger Homo oeconomicus. Ziemlich oft ist er auch ein unvernünftiger Homer Simpson.

„Ich habe nie Sex mit Pariser, weil Kondome die Stimmung kaputt machen“, lautete etwa eine der Begründungen für ungeschützten Geschlechtsverkehr. Oder: „Ich habe nie Sex mit Pariser, weil Kondome ohnehin nicht 100% sicher sind.“

Soviel Unvernunft erstaunte die Präventionsexperten nicht. Ganz gleich, ob Menschen das Rauchen aufgeben oder beim Autofahren einen Gurt tragen sollen – noch nie hat eine Sensibilisierungskampagne über Nacht für eine Verhaltensänderung gesorgt. So eine „Umerziehung“ dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Selbst dann, wenn das unvernünftige Verhalten zum Tod führen kann.

Darum war klar, dass nur eine kontinuierliche Präventionskampagne die Ausbreitung der Seuche stoppen würde. Für ihre Entwicklung beschlossen das Bundesamt für Gesundheit und die Aids-Hilfe Schweiz zusammenzuspannen. Das BAG sollte die finanziellen Mittel sowie die wissenschaftliche und fachliche Kompetenz in die Partnerschaft einbringen. Die AHS sorgte für die Erfahrung in der Aids-Prävention, die Betroffenenkompetenz und die Nähe zu Gruppen mit Risikoverhalten.

Doch etwas fehlte noch für eine wirksame Präventionskampagne: die richtigen Botschaften in der richtigen kreativen Umsetzung. Darum wurden am 20. August 1986 sechs Werbeagenturen zu einem Briefing ins BAG eingeladen – es war dies das erste Mal, dass ein Bundesamt die Zusammenarbeit mit Werbern suchte.

Vier Agenturen beteiligten sich schliesslich an einer Konkurrenzpräsentation. Und zwei von ihnen konnten überzeugen: Leibundgut-Werbung aus Zürich – die Agentur, die schon humorvoll den Hot Rubber bewarb – und cR aus Basel, deren Gründer Jürg Schaub ein Bekannter von Beat Roos war, dem Chef des Bundesamts für Gesundheit. (Ja, Werbung ist ein Beziehungsgeschäft.)

Leibundgut-Werbung präsentierte die kreativeren Filmideen. Doch die Agentur cR stellte ein Kampagnenlogo vor, das in die Geschichte der Schweizer Werbung eingehen sollte, wenn nicht in die Geschichte der Werbung überhaupt.

Ob bewusst oder unbewusst: Das Bundesamt für Gesundheit und die Aids-Hilfe Schweiz hatten gut daran getan, den Agenturen nur drei Wochen Zeit zu geben.

Grossartige Ideen sind wie Diamanten.

Sie entstehen unter Druck.


Logo + Slogan = Slogo

Und was genau war sie, die grossartige Idee beim Logo für STOP AIDS? Eben genau dies: STOP AIDS. Ich erkläre Ihnen gern, warum.

Wer einen Brief schreibt, unterschreibt ihn. Bei einem Plakat, Inserat oder TV-Spot ist das nicht anders. Am Ende kommt der Absender: das Logo.

Aber nicht bei der Schweizer Aids-Präventionskampagne, die am 3. Februar 1987 startete. Hier kam etwas Anderes, Besseres. Ich nenne es ein Slogo – die Verbindung eines Logos mit einem Slogan. STOP AIDS ist das Logo der Kampagne. Und STOP AIDS ist auch ihr Slogan.

Slogan ist ein Begriff, der sich vom schottisch-gälischen sluagh-ghairm ableitet. sluagh heisst Volk oder Heer. ghairm heisst Ruf. Ein Slogan ist also in Friedenszeiten der Sammelruf eines Clans. Und im Krieg ist ein Slogan ein Schlachtruf. Wie beim Imperativ STOP AIDS.

Mit STOP AIDS als Slogo machte jedes Kommunikationsmittel der Kampagne in gerade mal zwei Worten klar, worum es ging: nämlich AIDS ZU STOPPEN. Doch die Werbeagentur cR ging noch einen Schritt weiter. Die Kreativen ersetzten das O von STOP AIDS durch ein aufgerolltes rosarotes Präservativ. Damit rief nicht nur jedes Kommunikationsmittel dazu auf, Aids zu stoppen. Es machte auch klar, wie das am besten ging.

Ein Logo, ein Slogan und die wirksamste Präventionsmassnahme mit nur sieben Buchstaben und einem einfachen Bild ausgedrückt. Einem Bild, das zum Hingucken zwang. Denn ein Präservativ zu zeigen, war 1987 ein visueller Schock. Wer ein Präservativ sah, dachte an einen erigierten Penis, der in eine Vagina eindringt. Und solche Gedanken waren den Schweizerinnen und Schweizern bei einer Informationsmassnahme des Bundes noch nie gekommen.


I❤️NY der Aids-Prävention

Kurz: Ich kenne keine andere Kampagne, deren Absender ein so auffälliges, überzeugendes, kreativ maximal verdichtetes Plakat ergeben würde wie jenes, das STOP AIDS schalten konnte. Auf Plakatwänden in der ganzen Schweiz war einfach riesengross das Logo der Kampagne zu sehen. Damit war alles gesagt: Sex mit Gummi stoppt Aids.

Kein Wunder, hatte das STOP AIDS-Logo innert kürzester Zeit einen Bekanntheitsgrad von fast 100%. Mehr noch: Kein Absender einer anderen Präventionskampagne wurde weltweit so oft kopiert.

Ersonnen wurde das I❤️NY der Aids-Prävention von Jürg Schaub, dem Chef von cR, in Zusammenarbeit mit seinen Kreativköpfen. In der agenturinternen Urversion des Logos war der Pariser noch der Punkt auf dem i des Worts „Aids“ gewesen.

1934 in Basel geboren, flog Schaub wegen Ungehorsam vom Gymnasium und machte eine Lehre als Drogist. Danach besuchte er die Fachklasse für Grafik an der Basler Kunstgewerbeschule.

Mit 20 fuhr er mit dem Schiff nach New York. Ohne grosse Englischkenntnisse, ohne Arbeitsbewilligung, ohne Geld. Während sechs Jahren arbeitete Schaub dort in Agenturen und kam 1960 nach Basel zurück – als richtiger „Mad Man“, wenn Sie die TV-Serie über New Yorker Werber in den 1960er Jahren kennen. (Ich will damit sagen, dass Schaub Frauen, Schnaps und ganz generell das gute Leben liebte.)

1968 gründete Schaub dann die Werbeagentur Creative Realisation, deren Name er schon bald zu cR verkürzte.


Von der Seuchenpolizei zur Lernstrategie

Radikale Verkürzung war es auch, die den Start der STOP AIDS-Kampagne prägte.Auf Plakaten stand einfach gross „ok“, das o durch das rosarote Präservativ ersetzt. Andere Schlagzeilen mit Gummi-o waren „tonight“ oder „bravo“ – ein cleverer kreativer Dreh.

Wenig später sah man das Kondom als Mond über der nächtlichen Silhouette von Schweizer Städten – damit war ohne Worte alles gesagt: Vor Aids schützen, Präservative benützen. Allerdings setzte der Bürgermeister von Lugano, über dessen Stadt der Pariser ebenfalls wachte, eine einstweilige Verfügung gegen das Plakat durch. Seine Begründung (durchaus ernstgemeint): „Im katholischen Tessin gibt es kein Aids.“

Dass die Kampagne das Kondom in den Mittelpunkt der Präventionsmassnahmen stellte, war Ausdruck eines radikalen Wandels in der Bekämpfung von Epidemien: von Old Public Health zu New Public Health, von der Seuchenpolizei zur Lernstrategie.

Früher hätte man versucht, möglichst viele Träger des Virus zu identifizieren und dafür zu sorgen, dass sie niemanden mehr anstecken. So wie etwa in Kuba, wo HIV-Infizierte und Aidskranke interniert wurden – die alte Seuchenstrategie.

Die Schweiz verfolgte demgegenüber die neue Lernstrategie: Das Bundesamt für Gesundheit und die Aids-Hilfe Schweiz waren davon überzeugt, dass man der Bevölkerung den Umgang mit dem gefährlichen Virus beibringen konnte. Eine Art zweite sexuelle Aufklärung.

Allerdings gab es auch bei der Lernstrategie einen positiven und einen negativen Weg. Länder wie Grossbritannien („Don’t die of ignorance“) oder Australien („Aids kills more Australians than World War Two“) schürten in ihren Kampagnen die Angst vor Krankheit, Ausgrenzung und Tod. Für die Gesundheitsbehörden dieser Länder war die Angst vor Aids das wirksamste Motiv, um sich vor einer HIV-Infektion zu schützen.

Die Schweiz setzte dagegen von Anfang an auf positive Motivation, den Appell an die Eigenverantwortung und die soziale Integration von Infizierten und Kranken. Zudem wurden Tabuthemen offen angesprochen, wie etwa sexuelle Vorlieben, Drogen, Prostitution – und vor allem eben die Anwendung des Kondoms.


Der Esel und der Bundesrat

Dafür gab es gute Gründe. Der erste: Damit die Schweizer Bevölkerung den Umgang mit Aids lernen konnte, musste das BAG offen über alle Aspekte der Krankheit reden können. Der zweite: Je einfacher man es den Menschen macht, ihr Verhalten zu ändern, desto eher werden sie es tun.

Tatsächlich könnte man den Prozess einer Verhaltensänderung mit folgendem Vergleich beschreiben: Ein Mann will auf einem Esel einen Berg überqueren. Der Mann verkörpert unsere vernünftige Seite, die an unserem langfristigen gesundheitlichen Wohl interessiert ist (Schutz vor Aids). Der Esel steht für unsere unvernünftige Seite, die nach unmittelbarer Befriedigung unserer Bedürfnisse strebt (SEX! JETZT!). Der Berg ist die geplante Veränderung (Safer Sex).

Entmutigt von der Höhe des Bergs, bleibt der Esel stehen und bewegt sich keinen Zentimeter mehr weiter. Also führen wir das Tier so lang dem Berg entlang, bis dieser abflacht und zu einem Hügel wird. Wir machen die Veränderung kleiner und dadurch bewältigbar. Wir beschränken sie auf die Befolgung einer einzigen einfachen Regel: Kein Sex ohne Kondom.

Eine erfolgversprechende Strategie, fanden das BAG und die Aids-Hilfe Schweiz. Das Problem aber war, dass vor dem Hügel ein Mann stand und dem Esel den Weg versperrte.

Dieser Mann war der neu gewählte Bundesrat Flavio Cotti.

Und der konnte der gerade lancierten STOP AIDS-Kampagne den Geldhahn zudrehen.


Pariser oder Priester

Für Cotti – Tessiner und Vertreter der CVP – war das STOP AIDS-Logo mit dem Gummi-O zwar grossartige Werbung, aber solche für den lokalen Swingerclub. Statt die Aids-Epidemie dadurch einzudämmen, dass der Bund zu Treue und Moral aufrief, wurde nur der künstliche Schutz vor einer HIV-Infektion propagiert. Darum wollte Cotti, dass die STOP AIDS-Kampagne auch auf die vorbeugende Wirkung monogamen Verhaltens hinwies.

Die Werber von cR lösten diese Aufgabe mit Bravour. In Plakaten und Inseraten mit der Schlagzeile „BLIIB TREU STOP AIDS“ ersetzten sie einfach das O von STOP AIDS durch einen Ehering. Die Kirche war wieder im Dorf, und Flavio Cotti liess den Geldhahn offen. (Was Cotti übersah: Die Idee, den Gummi durch einen Ehering zu ersetzen, liegt für einen kreativen Werber dermassen auf der Hand, dass man das Motiv fast schon als Stinkefinger an die Adresse des frommen Tessiners deuten könnte.)

Eine weitere Präventionsbotschaft betraf den intravenösen Heroinkonsum. In den ersten Jahren der Kampagne wurde dabei der Fokus auf die grundsätzliche Verhinderung einer Sucht gelegt, so etwa mit dem Plakat „Nie anfangen stoppt Aids“. Ab 1990 ging man dann aber dazu über, weniger vor Heroin zu warnen als dessen Konsum sicherer zu machen („Nie Spritzen weitergeben“) – die sogenannte Safer-Use-Strategie. Allerdings wurde die kostenlose Abgabe sauberer Spritzen – vor allem auf dem Zürcher Platzspitz – von gewissen Kreisen im selben Masse kritisiert wie die Propagierung des Kondoms als wirksamstem Schutz vor einer HIV-Infektion.


Auftritt Charles Clerc

Vor allem die Aids-Aufklärung Schweiz – eine Initiative aus dem Umfeld des rechtskonservativen Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis – machte sich gegen die Abgabe sauberer Spritzen stark und kritisierte die erheblichen Mittel, die der STOP AIDS-Kampagne zuflossen (in den 1980er und 1990er Jahren jährlich zwischen 3.5 und 5 Millionen Franken).

Eine ordentliche Stange Geld. Nicht zuletzt, weil die Kampagne von diversen Gratisleistungen profitierte. So gewährten etwa die Plakatgesellschaften 50% Rabatt (für jedes bezahlte Plakat gab es eins umsonst). Die Schaltung von Kinospots kostete bis zu 70% weniger. Und am wichtigsten: Die TV-Spots wurden im Schweizer Fernsehen kostenlos ausgestrahlt, allerdings erst nach 21.00 Uhr – ein Beschluss der damaligen Direktion des Schweizer Fernsehens.

Das kümmerte den TV-Moderator Charles Clerc allerdings wenig. In der Hauptausgabe der „Tagesschau“ vom 3. Februar 1987 leitete er den Beitrag über die Medienkonferenz für die STOP AIDS-Kampagne damit ein, dass er vor versammelter Fernsehnation ein Kondom auspackte, es über den Mittelfinger stülpte und die Schweizerinnen und Schweizer wissen liess: „Dieses kleine Ding, meine Damen und Herren, kann Leben retten.“

Ein Stück Fernsehgeschichte. Und natürlich das Beste, was der gerade lancierten STOP AIDS-Kampagne PR-mässig passieren konnte. Dass Charles Clerc der Fernsehdirektion den Finger zeigte, ging auf eine Anregung von Kurth W. Kocher zurück, damals Moderator der Sendung „Menschen Technik Wissenschaft“ und mit Roger Staub, Vorstandsmitglied der Aids-Hilfe Schweiz, freundschaftlich verbunden.


„Im Minimum en Gummi drum“

Dass den PR-Coup zur besten Sendezeit drei Schwule ausheckten, kommt nicht von ungefähr. Es mag zynisch klingen, aber als Werber muss ich dies sagen: Es war ein Glücksfall für die Aids-Prävention, dass die Krankheit zu Beginn hauptsächlich homosexuelle Männer betraf. Viele Schwule, die ich kenne, sind kreative und mutige Macher, und viele sind auch in den Medien. Wie wäre es ohne ihre Chuzpe und ohne ihr Netzwerk um die frühe Schweizer Aidsprävention bestellt gewesen?

Ein weiterer kommunikativer Glücksfall war die Idee der Werbeagentur cR, die zentrale Präventionsbotschaft „Vor Aids schützen, Präservative benützen“ in einen eingängigen Song zu packen. Darum wurden verschiedene Schweizer Musiker angefragt, ob sie die STOP AIDS-Kampagne unterstützen würden. Le Beau Lac de Bâle (für die Romandie), Vic Vergeat (fürs Tessin) und Polo Hofer (für die Deutschschweiz) sagten zu.

Erfolg hatte zwar nur der „Gummi-Song“ von Polo Hofer und seiner Schmetterband, dafür aber richtig. Das Lied hielt sich im Februar und März 1987 während Wochen in der Deutschschweizer Hitparade und verkaufte sich fast 10’000 Mal.

Getextet wurde der Song – mit dem eingängigen Refrain „Bim Siiteschprung im Minimum en Gummi drum“ – übrigens nicht von Polo National. Der Text stammte von René Fisch, einem Kreativen der Agentur cR, der nicht nur selber Musiker war, sondern auch viel Affinität für das Thema Aids besass.


Aids durch Tränen?

Polo Hofer präsentierte sein Lied zum ersten Mal an der Medienkonferenz für STOP AIDS im Kino Club in Bern. Über 200 Journalisten aus der ganzen Schweiz nahmen an der Veranstaltung teil, die von Beat Roos, Chef des Bundesamts für Gesundheit, und Beat Meyenberg, Vizepräsident der Aids-Hilfe Schweiz, geleitet wurde.

Bertino Somaini, Vizedirektor des BAG, legte die epidemiologische Ausgangslage dar. Hansjürg Ryser, Sektionschef des BAG, die Zielsetzungen der Kampagne. Professor Felix Gutzwiller vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Lausanne das Evaluationsprogramm. Zuletzt präsentierte Roger Staub, Beauftragter des BAG und Vorstandsmitglied der Aids-Hilfe Schweiz, die erste Phase der Kampagne.

Die unzähligen Berichte der Medienvertreter trugen massgeblich dazu bei, dass die Präventionsbotschaft „Beim Sex immer Präservative benützen“ die breite Bevölkerung erreichte. Gleichzeitig sorgten die Medien beim Thema Aids aber auch für Verwirrung. Dies z. B. mit immer wiederkehrenden reisserischen Berichten im Stile von „Aids: Küssen doch gefährlich“.

Befragungen im Jahr 1988 zeigten denn auch, dass sich etliche Irrtümer und Vorurteile ein Jahr nach Beginn der Kampagne hartnäckig hielten. So glaubten etwa viele Schweizerinnen und Schweizer noch immer an ein Infektionsrisiko beim Küssen oder Händeschütteln, durch Tränen oder Insektenstiche, in Schwimmbädern oder auf Klobrillen.

Darum entschieden sich das BAG und die Aids-Hilfe Schweiz, ein für alle Mal klarzumachen, wie man sich nicht anstecken konnte. 1989 zeigte ein Plakat unzählige Mücken, die das Wort „Mücken“ bildeten, darunter stand gross die Schlagzeile: „Keine Aids-Gefahr“. Ein anderes Plakat setzte sich aus roten Kussabdrücken zusammen, die sich zum Wort „Schmuse“ formten, darunter ebenfalls: „Keine Aids-Gefahr“.


Der Trick mit der Trickfigur

Gleichzeitig erwies sich bei vielen Neuansteckungen, dass sie auf den falschen Gebrauch von Kondomen zurückzuführen waren. Die STOP AIDS-Kampagne entwickelte darum 1991 die Trickfigur Leo, die sich mit einem menschlichen Dialogpartner unterhält, der Leo die richtige Anwendung von Präservativen beibringt – anhand einer Banane. Die Anleitung „Und jetzt eifach röllele und röllele und röllele“ – abermals von René Fisch getextet – wurde zum geflügelten Wort.

Der Entscheid, eine Trickfigur zu verwenden, war schlau. Leo erlaubte eine grössere Freiheit, noch immer bestehende Tabuthemen anzusprechen, so etwa die Verwendung von Gleitmitteln oder Sex mit Prostituierten. Ab 1995 brachte eine Schauspielerin auch gezielt die weibliche Sicht auf Präservative ein.

Kommunikationsmassnahmen wie diese zeigen gut, dass STOP AIDS von der fortlaufenden Evaluation der Kampagne durch das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Zürich profitierte, an die Professor Felix Gutzwiller mittlerweile gewechselt war. Sie führte zu neuen Botschaften und damit auch zu neuen Ideen.

Beurteilt wurden diese vom sogenannten Kreativteam. Ihm gehörten seit Beginn der Kampagne Vertreter des BAG, der Aids-Hilfe Schweiz, der verantwortlichen Werber sowie externe Experten an: ein Sozial- und Präventivmediziner und ein Marketing- und PR-Spezialist.

Das Kreativteam gab die Leitlinien der Kampagne vor und verabschiedete Ideen und Umsetzungen. Eine weitere Aufgabe war es zu verhindern, dass die STOP AIDS-Kampagne bei ihrer Gratwanderung zwischen den Tabuthemen Sex und Tod die Schweizer Bevölkerung allzu sehr vor den Kopf stiess.

In den ersten Jahren hatte das ganz gut geklappt. Doch 1994 löste STOP AIDS den ersten Skandal in der Geschichte der Kampagne aus.


Ein Bett im Kornfeld

Wurde das Kondom zu Beginn noch relativ dezent in Szene gesetzt, nämlich im aufgerollten Zustand als Symbol für die Aidsprävention, wagte sich STOP AIDS 1991 erstmals aus der Reserve.

Junge Schweizerinnen und Schweizer zwischen 18 und 35 zeigten das Präservativ entrollt und über den Daumen gestülpt mit dem selbstbewussten Slogan: „Ohne? Ohne mich.“ Sogar das Heidi auf der Alp war auf einem der Motive zu sehen.

Ein Aufreger, vor allem für einige Schweizer Bauern, die fanden, auf dem Land gebe es kein Aids. Der wahre Skandal erfolgte aber im Sommer 1994.

Im Bestreben, der Botschaft „Sex nur mit Kondom“ immer wieder Gehör zu verschaffen, hatte die Agentur cR eine neue Kampagne entwickelt. Sie zeigte Paare im Grünen, die gleich Sex haben würden. Unter anderem sah man auch zwei Schwule in einem Kornfeld.

Dieses Motiv provozierte in einem Masse, die niemand vorausgesehen hatte. Hunderte von Plakaten wurden heruntergerissen oder übersprayt. Wohl weil es hier klar um schwulen Sex ging und nicht nur verschämt-verbrämt um Männerfreundschaft. Der Bundesrat wurde sogar aufgefordert (allerdings umsonst), eine Ethikkommission einzusetzen, die STOP AIDS in Zukunft auf Anstand und Moral hin überprüfen sollte.

1995, im Jahr danach, zeigte die Kampagne abermals Paare. Auch ein schwules war wieder dabei. Die beiden Männer waren nackt, doch sah man sie nur bis zu den Schultern. Vielleicht darum – oder auch, weil schwuler Sex in der Zwischenzeit an Provokanz verloren hatte – gab es keine negativen Reaktionen mehr.

Genau das ist das Spannende an Werbung. Sie ist immer auch ein Stück Kultur- und insbesondere ein Stück Sittengeschichte.


Das Gesicht von Aids

Mit Ausnahmen wie dieser war aber die gesellschaftliche Akzeptanz der STOP AIDS-Kampagne erfreulich hoch. Das hat wohl auch damit zu tun, dass Aids in der Schweiz schon früh ein Gesicht bekam. Nur wenige Tage nach der Gründung der AHS klingelte bei Co-Gründer Roger Staub eines Abends das Telefon. „Do isch Ratti, MTW. Ich han Aids und will öppis tue.“

André Ratti, der frühere Moderator der Sendung „Menschen Technik Wissenschaft“, war ein beliebter Schweizer TV-Star der 1980er Jahre. Und er wurde – nach einiger Überzeugungsarbeit durch Roger Staub – der erste Präsident der Aids-Hilfe Schweiz.

Die radikale Offenheit Rattis, der im Oktober 1986 an Aids starb, trug massgeblich dazu bei, dass in der Schweiz die Diskriminierung von an Aids erkrankten Menschen weniger stark ausfiel als in anderen Ländern. Dennoch war es nötig, dass die Kampagne von 1989 bis 1992 – jeweils in ernstem Schwarzweiss – das Thema Solidarität auf Plakaten und in TV-Spots ansprach. Schliesslich sollten nicht die Aidskranken bekämpft werden, sondern ihre Krankheit.

Mal gab man HIV-Infizierten und Aidskranken das Wort, die unter Diskriminierung zu leiden hatten. Dann liess die Kampagne Prominente der Nation ins Gewissen reden, so etwa Mario Botta, Emil Steinberger, Pfarrer Sieber oder Nella Martinetti.

Besonders gelungen war eine kreative Umsetzung aus dem Jahr 1992: Auf einem Plakat sah man eine Backsteinmauer. Die Schlagzeile in dicken Lettern: „Dahinter steht Martina, 26, aidskrank. Davor stehen Sie.“ Die Idee stammte vom Sohn von Jürg Schaub, Thomas Schaub, der jahrelang ebenfalls für die STOP AIDS-Kampagne tätig war.


Texterdiesel

Wie kommt man eigentlich auf solche Ideen? Ist das nicht furchtbar schwierig, auf Knopfdruck Einfälle haben zu müssen? „Nein und ja“, kann ich Ihnen dazu als Werber sagen. Nein, weil man als Kreativer immer Ideen hat. Das Blatt bleibt nie leer. Es gibt etliche Mechanismen, die sich durchspielen lassen, um ein erstes Konzept zu erarbeiten. Aber eine wirklich gute Idee dauert länger. Das ist wie bei einer jener Kisten in den alten James-Bond-Filmen, die kein Schloss haben und bei denen man zwei, drei Stellen gleichzeitig drücken muss, damit sie aufspringen. Diese Stellen muss man eben suchen. Und manchmal ist das verflucht anstrengend.

Nur zu gut weiss das der Texter Tom Seinige, denn 1997 entschied sich cR, das Thema HIV-Infektion mit einer umfangreichen Schlagzeilenkampagne zu dramatisieren. Darum stellte Jürg Schaub Seinige eine Flasche Whiskey auf den Tisch. „Texterdiesel“, meinte er.

Und der Motor von Tom Seinige fing an zu laufen. 200 Headlines hatte der Basler zuletzt. „Wenn der Kleine gross wird“, stand etwa über dem Bild eines Kondoms. Oder: „Nach dem Ausziehen immer eins anziehen.“ Oder: „Hält, was Sie einander nicht versprechen.“ Und dann – wohl nach einem besonders tüchtigen Schluck Texterdiesel – fiel Seinige eine Schlagzeile ein, an die sich noch 20 Jahre später die halbe Schweiz erinnert: „Ohne Dings kein Bums.“

Für Korrektoren der Horror, für die Aids-Prävention ein Glücksfall.


Nomen est omen

Während das Kreativteam und die Agentur cR damit beschäftigt waren, Welle für Welle der STOP AIDS-Kampagne zu entwickeln, wurde laufend ihr Erfolg überprüft. Und der war offensichtlich.

Der Verkauf von Kondomen stieg in der Schweiz in den fünf Jahren seit Lancierung der Kampagne um 100% an, von 7.6 Millionen Gummis 1986 auf 15 Millionen im Jahr 1992. Vor allem die 17- bis 30-Jährigen benutzten neu bei gelegentlichen sexuellen Kontakten Präservative.

Zum Erfolg der Kampagne bei den Jungen trugen nicht zuletzt die STOP AIDS-Busse bei, die seit Mai 1988 im Einsatz waren. Sie fuhren bei Popkonzerten, Open-airs oder Filmfestivals vor und wurden von jungen Männern und Frauen betrieben. In der Aids-Prävention geschult, verteilten sie Flugblätter, Broschüren, Kleber, Präservative oder auch sterile Spritzen.

Zusätzlich gab es Aktionen in belebten Einkaufsstrassen, nun aber für die breite Bevölkerung. Die Street Teams in auffälligen weissen Overalls mit dem STOP AIDS-Logo auf dem Rücken – sie sahen darin selbst ein wenig wie Kondome aus – verteilten Präservative und Anleitungen für ihren korrekten Gebrauch. Manchmal schwebte über dem Aktionsstand auch ein STOP AIDS-Zeppelin, von der bekannten französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle (nomen est omen) auffällig bemalt.


Penis mit Knoten

Die Kreativen von cR hatten das prestigeträchtige (und auch lukrative) Budget von STOP AIDS übrigens nicht auf Nummer sicher. Dieses wurde alle paar Jahre neu ausgeschrieben. Dutzende von Agenturen bewarben sich jeweils um die Teilnahme an einer Konkurrenzpräsentation. Ein paar wenige durften dann ihre strategischen Gedanken und kreativen Umsetzungen präsentieren.

1999 versprach für cR die Konkurrenz besonders hart zu werden, denn je länger eine Agentur ein Budget betreut, desto überzeugender muss sie es verteidigen. Darum verstärkte Jürg Schaub sein Kreativteam mit André Benker, einem hervorragenden freien Texter. Der Werber des Jahres 1996 sollte Ansätze für die nächste Welle der STOP AIDS-Kampagne entwickeln.

Das tat Benker auch. Allerdings präsentierte er Jürg Schaub nach zwei Wochen nicht ein Dutzend Konzepte, wie sich das der Kreativchef von cR von gut bezahlten Freien gewohnt war, sondern gerade mal eine einzige Idee für einen TV-Spot.

Die Kamera sollte in ästhetischem Schwarzweiss ein Liebespaar an einem menschenleeren Strand zeigen. Zu leidenschaftlicher Opernmusik würden sich der Mann und die Frau umarmen und küssen. Schliesslich würde das Paar beginnen, sich gegenseitig zu entkleiden. Zuletzt würde die Frau dem Mann sogar die Unterhose herunterziehen. Und dann käme die Pointe des TV-Spots: In Grossaufnahme wäre der Penis des Mannes zu sehen – mit einem Knoten drin. Wie die bekannte Erinnerungsstütze: ein Knoten im Taschentuch. Der Auflösungstext: „Nicht vergessen: Präservativ benützen.“

Zähneknirschend akzeptierte Jürg Schaub, dass wohl noch nie ein freier Texter für eine einzige Idee so viel Geld bekommen hatte (bei einem geschätzten Tagesansatz von 1500 Franken rund 15’000 Franken). Doch die teuerste Idee in der Geschichte der Schweizer Werbung sicherte cR ein weiteres Mal das Budget von STOP AIDS.

Allerdings zum letzten Mal. Vier Jahre später wechselte das Mandat die Agentur, vom Rhein an die Limmat, von cR zu Euro RSCG, von Jürg Schaub zu Frank Bodin.

Es war Zeit für STOP AIDS, ein neues Kapitel zu schreiben.

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