Denken ohne Denken

Gerd+Gigerenzer
Psychologe Gerd Gigerenzer: „Die Flamme des Bewussten ist sehr klein“


„Die Kunst des klaren Denkens“ will der Schweizer Rolf Dobelli in seinem Bestseller lehren. Doch der renommierte Psychologe GERD GIGERENZER warnt. Für ihn sind Bauchentscheidungen häufig intelligenter.

NZZ am Sonntag, 18. August 2013 · Lesedauer 4 Min.

Sind Sie ein Hellseher, Herr Professor?
Wie kommen Sie darauf?
Sie loben die Intuition, das ist ein esoterischer Begriff.
Eine Intuition ist für mich ein Gefühl, das wir plötzlich haben, dessen Ursache wir nicht kennen und das uns dennoch zum Handeln bewegt. Das wird oft gleichgesetzt mit inneren Stimmen oder mysteriösen Vorahnungen. In Wahrheit ist Intuition nicht ein sechster Sinn, sondern eine unbewusste Form von Intelligenz.
Ein Beispiel?
Welche Stadt hat mehr Einwohner: Detroit oder Milwaukee? Fast alle deutschen Studenten, die wir befragten, gaben intuitiv die richtige Antwort: Detroit. Das konnten sie, weil sie eine einfache Faustregel verwendeten: „Wenn eine der beiden Städte bekannter ist, dann schliesse daraus, dass sie mehr Einwohner hat.“ Intuition erlaubt uns, uns auf die wirklich wesentlichen Informationen zu konzentrieren.
Gefühltes Wissen statt klares Denken? Rufen Sie zur Denkfaulheit auf?
Intelligenz ist nicht nur eine bewusste, überlegte Tätigkeit. Der allergrösste Teil des menschlichen Gehirns arbeitet unbewusst. Vieles in unserem geistigen Leben beruht auf Intuition, auf Bauchentscheidungen.
Das sieht das klassische rationale Entscheidungsmodell anders.
Richtig. Es verlangt, dass man immer alle Alternativen und ihre Konsequenzen auflistet, diese gewichtet und mit der jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert. Das beschreibt aber nicht, wie die meisten Menschen tatsächlich Entscheidungen treffen. Ein Professor der New Yorker Columbia University hatte ein Angebot einer rivalisierenden Uni. Tagelang fragte er sich: Bleiben oder gehen? Ein Kollege meinte: „Was ist denn dein Problem? Mach doch einfach, was du deinen Studenten predigst: Maximiere deinen Nutzen!“ Der Professor entgegnete entnervt: „Come on. This is serious!“
Die Kunst des klares Denkens, wie sie etwa der Bestseller-Autor Rolf Dobelli lehrt, ist für Sie Wunschdenken?
So ist es. Im Grunde können wir gar nie rational entscheiden. Dafür müssten wir immer alle Alternativen und Konsequenzen kennen. Doch unser Wissen ist beschränkt, und wir haben nicht immer Zeit, alle Pros und Contras abzuwägen.
Auch für den Nobelpreisträger Daniel Kahneman führt uns die Intuition häufig in die Irre. In seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ hält er fest: Entscheidungen, die wir mit dem bewussten, rationalen „System 2“ treffen, sind jenen des unbewussten, intuitiven „Systems 1“ überlegen.
Davon abgesehen, dass ich Kahnemans Unterscheidung zwischen „System 1“ und „System 2“ für den absoluten Tiefpunkt von Theoretisieren halte, ist es korrekt, dass nicht alle intuitiven Entscheidungen optimal sind. Aber das sind rein rationale Entscheidungen auch nicht. Kommt hinzu: Das rationale Entscheidungsmodell funktioniert nur in Situationen, in denen wir sämtliche Risiken genau kennen. Das ist aber nur im Kasino der Fall.
Wie meinen Sie das?
Es ist wichtig, eine fundamentale Unterscheidung zu treffen: zwischen Risiken und Unsicherheit. Bei Risiken sind alle Alternativen, Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten bekannt. Darum können Sie die sprichwörtliche „Rechnung machen“. In einer komplexen Welt wie der unseren, die von Unsicherheit geprägt ist, müssen Sie sich auf Ihre Intuition verlassen. Je grösser die Ungewissheit, desto wichtiger das Bauchgefühl.
Intuition ist für Sie sogar mehr als nur eine Notlösung. Sie behaupten, dass sie der reinen Vernunft häufig überlegen sei. Wie kommen Sie darauf?
Durch Experimente. Für ein Börsenspiel der Zeitschrift „Capital“ fragten wir in Berlin 100 Passanten, von welchen Aktien sie schon einmal gehört hatten. Aus den zehn Aktien, die sie am häufigsten nannten, stellten wir ein Portfolio zusammen und verfolgten damit eine einfache Kaufen-und-Halten-Strategie. Während der Chefredaktor von „Capital“ mit seinem Aktienpaket 18.5% ins Minus rutschte, legte das Portfolio der Anlage-Laien um 2.5% zu und übertraf damit die Rendite von 88% aller eingereichten Aktienpakete. Die einfache Faustregel „Investiere in das, was du kennst“ war Expertenwissen überlegen.
Gehen wir von jenen, die in Unternehmen investieren, zu jenen, die sie lenken: Empfehlen Sie auch CEOs, sich mehr auf ihre Intuition zu verlassen? Steve Jobs zumindest scheint damit gut gefahren zu sein. Er machte nie Marktforschung – und dennoch wurde Apple zum wertvollsten Unternehmen der Welt.
Nicht dennoch, sondern deshalb. Das Problem ist ja folgendes: Jeder CEO liegt unter einem Berg von Informationen begraben. Darum kann er gar nicht anders als intuitiv entscheiden.
Bauchentscheidungen in der Teppichetage? Unternehmensberater hätten daran keine Freude. Die verdienen mit harter Vernunft gutes Geld.
Aber nicht deshalb, weil sie kluge Entscheidungen treffen, sondern weil sie dem CEO die Verantwortung abnehmen. Der Chef eines Unternehmens würde ja nie zugeben, dass er in Wahrheit eine Bauchentscheidung fällt. Darum holt er sich eine Unternehmensberatung, die diese auf 200 Seiten begründet – und damit verschleiert. Das ist eine Verschwendung von Zeit, Geld und Intelligenz. Der CEO soll sich doch einfach trauen, die Wahrheit zu sagen.
Die Politik könnte ebenfalls von besseren Entscheidungen profitieren. Doch sind rein intuitiv entscheidende Politiker überhaupt wünschenswert? Auch Hitler rühmte sich seiner guten Intuition.
Jeder Politiker trifft einen Teil seiner Entscheidungen intuitiv. Das ist kein Merkmal von Diktatoren.
Aber wie sollen denn intuitive Politiker argumentieren? „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir das und das tun sollten“?
Warum nicht? Ein mutiger Politiker würde das.
Sie scherzen. Ein Politiker muss doch gute Gründe für sein Handeln nennen.
Überhaupt nicht. Man sollte nur den Erfolg eines Politikers beurteilen, nicht seine Vorgehensweise. Es geht einzig und allein um das Resultat. Wenn ein Fussballspieler aus einem ungewöhnlichen Winkel ein Tor schiesst, weil er den Ball intuitiv richtig getroffen hat, wird es vom Schiedsrichter ja auch nicht annulliert. Wir leben immer mehr in einer Gesellschaft der Prozedur statt der Performance. Wir sichern uns nach allen Seiten ab, aus Angst, Verantwortung zu übernehmen. Diese Art Führungspersonen brauchen wir nicht. Wir brauchen Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt, die ehrlich sagen, was sie denken.
Und deren Intuition trügt nie?
Aufgepasst: Ich sage nicht, dass wir nie unseren Verstand gebrauchen sollten. Aber wir dürfen die Ratio nicht über das Gefühl stellen. Die Logik ist nur eines der vielen nützlichen Werkzeuge, deren sich unsere Intelligenz bedienen kann. Die Flamme des Bewussten ist sehr klein im Vergleich zum Feuer des Unbewussten.

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