
Vor 40 Jahren wurde der Brite STEVE STRANGE mit seiner Band Visage zum Weltstar. Der Nachtclub-Impresario beeinflusste massgeblich die Ästhetik der 1980er Jahre. Umso tiefer dann der Fall der Stil-Ikone.
NZZ am Sonntag, 14. März 2021 · Lesedauer 5 Min.
Das Jüngste Gericht fand jeden Dienstag statt, zum ersten Mal am 6. Februar 1979. Ein junger Mann – noch nicht 20 – stand neben dem Eingang eines Nachtclubs im Londoner West End und entschied mit strenger Miene, wer zu den Auserwählten gehörte, die hineindurften, und wer zu den Verdammten, die draussen bleiben mussten. Wobei letztere in guter Gesellschaft waren. Auch Mick Jagger hatte vergeblich um Einlass gebeten. Zu gewöhnlich war er angezogen, fand der junge Mann, der an jenem Abend wie der Hohepriester eines okkulten Ordens gekleidet war. Und überhaupt: Wer waren schon die Stones? Aus dem Club, über dem in grossen Lettern BLITZ stand, drangen ganz andere Klänge. Pulsierende. Elektronische. Der DJ legte Platten auf von The Normal, La Düsseldorf oder Gina X. Bands, die statt auf Gitarre, Bass und Schlagzeug lieber auf Synthesizer, Sequenzer und Drum-Computer setzten.
Doch so sehr diese Musik nach Zukunft klang, so sehr sah nach Vergangenheit aus, wer es am Cerberus-gleichen Türsteher vorbeischaffen wollte. Vor allem das 18. Jahrhundert war in der wartenden Menge vertreten, mit Nachtschwärmern, die wie französische Edelmänner, englische Freibeuter oder schottische Freiheitskämpfer aussahen – letztere natürlich im Kilt. Auch das Berlin der Weimarer Jahre sandte eine Delegation, mit geheimnisvollen jungen Damen, die Anzug, Krawatte und Monokel trugen. Dazwischen sah man Wesen, die nicht nur aus einer anderen Zeit zu stammen schienen, sondern auch aus einer anderen Welt: Draculas Bräute, Untote und sonstige Kinder der Nacht.
Vor ein paar Wochen noch waren alle in der Schlange vor dem Club Punks gewesen. Jetzt wollten sie nicht mehr mit ihrer Hässlichkeit provozieren, sondern mit ihrer Extravaganz. Wobei das niemand besser tat als der junge Mann, der über das Schicksal der Wartenden entschied. Er kam als Steven Harrington in der Nähe von Cardiff auf die Welt, nannte sich Steve Strange und musste den ganzen Tag vor dem Spiegel gestanden sein, so ausgesucht und ausgefallen waren seine Kleidung, sein Make-up, seine Frisur.
Entsprechend hoch waren die Ansprüche, die der Arbiter Elegantiarum an die Erscheinung der Schlange Stehenden stellte. Regelmässig hielt er ihnen einen Spiegel hin und verhöhnte sie mit den Worten: „Schaut euch an – würdet ihr euch hineinlassen?“ Das Dumme war: Steve Strange durfte sich wie ein ausgemachtes Arschloch benehmen, denn zusammen mit dem DJ – Rusty Egan – führte er den Club. Genauer gesagt: den Pop-up-Club, denn das Blitz war eine in die Jahre gekommene Weinbar, die das Duo jeden Dienstagabend mietete.
Zwischen verblichenen Fotos, die London im Zweiten Weltkrieg zeigten, tranken und tanzten dort jeweils ein paar hundert extravagant gekleidete junge Menschen, von denen viele noch keinen Namen hatten, aber schon bald einen bekommen sollten. So zählte etwa der Modestudent John Galliano zu den Stammgästen, der zum Chefdesigner von Dior aufstieg. Eine gewisse Helen Folasade Adu war ebenfalls oft dort. Sie fing an zu singen und wurde unter dem Namen Sade zum Weltstar. Regelmässige Gäste waren auch die Mitglieder einer noch unbekannten Band, die Spandau Ballet hiess und eine der erfolgreichsten Gruppen der 1980er Jahre wurde.
Ein weiterer späterer Superstar war an der Garderobe des Clubs beschäftigt. Er hiess George O’Dowd und konnte als einziger Steve Strange an modischer Extravaganz das Wasser reichen. Mal war der Garderobier wie die keltische Kriegskönigin Boudicca gekleidet, mal nahm er die Mäntel der Gäste im Kostüm eines japanischen Kabuki-Darstellers entgegen. Dabei griff O’Dowd regelmässig in Handtaschen, um Geldscheine einzustecken. Wenig später hatte er das nicht mehr nötig. Denn aus George O’Dowd wurde Boy George – der Sänger von Culture Club.
Im Juli 1980 dann auf einmal allergrösste Aufregung im Club. Plötzlich stand ein Mann vor Steve Strange, der mit den Kunstfiguren Ziggy Stardust und Aladdin Sane die modische Extravaganz der Blitz-Szene genauso vorweggenommen hatte wie ihr Spiel mit wechselnden Identitäten. Tatsächlich: David Bowie war da! Und das mit einem ganz bestimmten Ziel: Er wollte ein paar der Stammgäste des Blitz als Komparsen für das Video zu seiner nächsten Single „Ashes to Ashes“ rekrutieren. Ob Steve Strange möglicherweise wüsste, wer dafür geeignet wäre? „Nun … vielleicht fallen mir da tatsächlich ein paar Namen ein“, meinte Strange. Und so kam es, dass David Bowie wenig später auf einem Filmset im Kostüm eines Pierrots dahinschritt, während ihm Steve Strange in einem bizarren schwarzen Hochzeitskleid folgte, begleitet von nicht weniger exzentrisch gekleideten Freundinnen.
Bowies Single „Ashes to Ashes“ sorgte dafür, dass die „New Romantics“ internationale Bekanntheit erlangten. Zwar schrien die Habitués im Blitz laut auf, als sie erfuhren, mit welchem Etikett die Presse sie bedachte – sie selber nannten sich „The Movement“ oder „The Cult of No Name“. In Wahrheit war die Bezeichnung „New Romantics“ gar nicht so unpassend, denn die Weltflucht, für die die Romantische Bewegung der frühen 1800er Jahre stand, zeichnete auch Steve Strange und seine extravaganten Freunde aus. Ihr Kontrastprogramm zur wirtschaftlichen und sozialen Misere im Grossbritannien der beginnenden 1980er Jahre hätte radikaler nicht sein können.
Wenig später dann ein weiterer Videodreh. Dieses Mal war Steve Strange aber nicht nur Komparse. Jetzt stand er als Sänger der Elektropop-Band Visage vor der Kamera, die mit „Fade to Grey“ im November 1980 einen internationalen Hit landete. Überhaupt war Strange in den frühen 1980er Jahren schwer beschäftigt. Er lancierte an diversen Orten weitere Partynächte, bis er schliesslich in einem alten Theater den Club Camden Palace eröffnete, der zum Epizentrum des Londoner Nachtlebens wurde.
Spätestens jetzt war der Mann, der schon als Teenager Punkkonzerte veranstaltet hatte, zu einem der wichtigsten Schrittmacher der 1980er Jahre geworden. Ja, eigentlich hatte Steve Strange das von Mode und Lifestyle besessene Ich-Jahrzehnt erfunden. Das Dumme aber war: Mittlerweile genügte ihm nicht mehr Amphetamin, um den doppelten Druck als Popstar und Clubbetreiber zu bewältigen. Jetzt musste es Kokain sein. Und nach einem Auftritt bei einer Modenschau für Jean Paul Gaultier kam auch noch Heroin hinzu.
Doch der Brite rappelte sich auf, zog nach Ibiza und veranstaltete dort Partys für Prominente. Bis ihn 1997 nach diversen Schicksalsschlägen – so zerstörte ein Feuer seine Wohnung in London – die Heroinsucht einholte. Im April 2000 dann der Tiefpunkt im Leben des Paradiesvogels: Komplett verarmt, wurde Steve Strange dabei erwischt, wie er eine Teletubbies-Puppe stahl. Immerhin nicht für sich – er wollte sie seinem Neffen schenken.
Nach dem jahrelangen Drogenmissbrauch gesundheitlich angeschlagen, erlag Steve Strange 2005 einem Herzinfarkt – er wurde nur 55 Jahre alt. Boy George und Mitglieder von Spandau Ballet trugen den Sarg des ehemaligen Königs der Poseure. Einer der grossen Momente der Popgeschichte. Und der Tag, an dem man die 1980er Jahre begrub.
Bleibt zu befürchten, dass seitdem nicht mehr Petrus über die Himmelspforte wacht, sondern Steve Strange. Das Tor zum Paradies würde sich in diesem Fall nur für die wirklich extravagant Gekleideten unter uns öffnen. Für alle anderen hiesse es: „Schaut euch an – würdet ihr euch hineinlassen?“