
LADY GAGAs Stern ist erloschen. Ein Nachruf zu Lebzeiten.
NZZ am Sonntag, 23. September 2012 · Lesedauer 2 Min.
2008 war das Jahr der Wunder: Barack Obama brachte die gut geschnittenen Anzüge Kennedys in die Politik zurück, Mickey Rourke bewies in „The Wrestler“, dass er der grösste Schauspieler der Welt ist, und Lady Gaga begann, so gekonnt Untergrund und Massengeschmack zu vermengen, dass Pop wieder schillernd, spannend, sexy wurde.
Drei Jahre später musste Obama Osama erschiessen, um die Chancen auf seine Wiederwahl zu erhöhen, Mickey Rourke verleugnete sein Talent erneut in B-Filmen, und Lady Gaga veröffentlichte „Born This Way“, ein Album mit Disco-Stampfern, die so plump sind wie das Video zu ihrer Single „Judas“: ein Mulatten-Jesus mit goldener Dornenkrone, die Apostel als Hells Angels – der Versuch, mit christlicher Symbolik zu provozieren, wurde von Madonna vor 25 Jahren gekonnter unternommen, und Lady Gagas Styling als Zigeuner-Rockerbraut ist DJ Bobo für Erwachsene: Kein Fleischkleid mehr, kein Telefon als Hut, keine Brille aus brennenden Zigaretten – das Ideenfeuerwerk aus Lady Gagas Büstenhalter ist aus, die ehemalige Supernova nur noch ein Weisser Zwerg mit einer Perücke von der Farbe von Narrengold.
Denn tatsächlich: Nicht die Lady war gaga – wir waren es – ich war es. Wie konnte ich meinen, dass ich von diesem lauwarmen Achtziger-Jahre-Aufguss nie genug bekommen würde? Wie glauben, dass der Geist des Pop in ihrem Fall nicht das tun würde, was er seit jeher tut: sich nach einer Weile eine neue Verkörperung suchen, einen neuen Avatar: Mal kreist er in den Hüften von Elvis, mal schimmert er im Make-up von Bowie, mal verführt er in den Melodien von Blur, und 2008 fährt er in die New Yorkerin Stefani Joanne Angelina Germanotta, die mit 18 eine Kunsthochschule verlässt, sich als Go-Go-Girl über Wasser hält und dann der Mutant Lady Gaga wird, dessen künstlerischer Höhepunkt an den MTV Music Awards 2009 kommt: Nach einer irritierenden Darbietung ihres Hits „Paparazzi“, während der sie sich an einem Seil in die Höhe ziehen lässt, um dann mit erloschenem Blick wie tot im Kreis zu drehen, sitzt Lady Gaga wieder unter den Nominierten, in einem Kleid aus feuerroter Spitze, vor dem Gesicht eine Maske, die aussieht wie geronnenes Blut.
Ein Moment des reinsten, des vollkommensten Pop-Glücks.
Und so, ja genau so wollen wir Lady Gaga in Erinnerung behalten: als eine junge Frau mit Charakter-Nase, die einen Wimpernschlag der Popgeschichte lang alles richtig machte. Sie verband Kunst und Kommerz, Avantgarde und Nostalgie, Gay und Hetero. Sie sass an einem Klavier auf Spinnenbeinen, hielt ein leuchtendes Mikrophon in der Hand und sah aus wie ein Wesen von einem fremden, glitzernden Stern. Doch dessen Licht ist längst erloschen, wenn Lady Gaga nächste Woche im Zürcher Hallenstadion auftritt.
Mach’s gut, kleine Pop-Prinzessin. Es war schön mit dir.