
Vor 40 Jahren veröffentlichten JOY DIVISION ihre erste Platte. Die Band aus Manchester bleibt einflussreich. Ihr Sänger war ein Rock-Schamane.
Weltwoche, 21. Juni 2018 · Lesedauer 5 Min.
Das bekannteste Bild der Band zeigt die Musiker auf einer Brücke. Das passt: Joy Division verbanden Punk mit Pop, Protest mit Poesie.
Die Gruppe entstand 1976 nach einem Auftritt der Sex Pistols, der so brachial war, dass danach viele Konzertbesucher selbst eine Band gründeten – schlechter als Johnny Rotten und seine dilettantischen Mitstreiter konnten sie ja nicht sein.
Auch zwei junge Männer aus der Nähe von Manchester fanden so zusammen: Bernard Sumner (Gitarre) und Peter Hook (Bass). Wenig später kamen Ian Curtis (Gesang) und Stephen Morris (Schlagzeug) hinzu.
Die vier Punk-Novizen nannten ihre Band Warsaw – inspiriert durch einen Song von David Bowie – und begeisterten erst niemanden. Einzig der Sänger fiel auf, aber nur wegen seines seltsamen Tanzstils. Ian Curtis zappelte und zuckte wie von Dämonen besessen. Gelegentlich demolierte er auch die Bühne oder wälzte sich in zerschlagenen Bierflaschen. Danach war Curtis wieder der höfliche junge Mann, als den man ihn ausserhalb seiner Auftritte mit Warsaw kannte. 1975, mit gerade mal 19 Jahren, hatte er sogar schon geheiratet.
Anfang 1978 benannte sich die Band in Joy Division um. Der neue Name ging auf den Roman „The House of Dolls“ von Yehiel Feiner zurück. Darin beschreibt der Holocaust-Überlebende – unter dem Pseudonym K. Tzetnik – eine „Freuden-Abteilung“ im KZ Auschwitz, wo jüdische Mädchen deutschen Soldaten zu Diensten sein mussten. In Wahrheit gab es dieses Bordell überhaupt nicht. Der traumatisierte Feiner vermischte in seinem kruden Buch Realität und Fiktion.
Im Juni 1978 veröffentlichten Joy Division ihre erste Aufnahme – „An Ideal for Living“ – mit gerade mal vier Songs. Die Band hatte noch keinen Plattenvertrag und finanzierte die Kurz-LP mit einem erschwindelten Kredit. Seine Frau Deborah und er würden neue Möbel brauchen, hatte Ian Curtis der Bank erzählt.
Das Album zeigte, woher Joy Division kamen und wohin sich die Band entwickeln sollte. Die Songs „Failures“ und „Warsaw“ waren noch simpler Punk, doch „Leaders of Men“ und „No Love Lost“ zeigten, dass Joy Division nicht mehr auf erfolgreichere Punkbands wie die Stranglers oder die Buzzcocks schielten, sondern geradeaus schauen wollten.
„Was wird nach der Explosion von Punk kommen?“, schien sich die Band in diesen Stücken zu fragen. Konnte man seinen rohen Sound verfeinern, zum Beispiel mit Anleihen bei experimentellen deutschen Bands wie Neu oder Can? Konnte man mit seiner Intensität nicht nur den Hass auf das „System“ ausdrücken, sondern auch komplexere Gefühle? Schliesslich war Ian Curtis ein begeisterter Leser von Kafka, Dostojewski und William S. Burroughs, sah sich wie sein Vorbild Jim Morrison von den Doors als Rock-Poet.
Doch der Sänger von Joy Division schrieb nicht nur düster-philosophische Texte. Wenn er seinen Kollegen beim Improvisieren zuhörte, erkannte Curtis auch sofort, welche Gitarrenriffs und Basslinien das Zeug zu einem guten neuen Song hatten. Sogar der eigenständige Sound der Band verdankte sich einer Anregung ihres Frontmanns. Weil Peter Hooks neuer Verstärker zu schwach war für kraftvolle Tieftöne, spielte der Bassist eine oder sogar zwei Oktaven höher als gewöhnlich. „Mach das immer so“, meinte Curtis und ermunterte Hook zudem, die Melodieführung nicht wie üblich dem Gitarristen zu überlassen, sondern selbst zu übernehmen.
Endgültig geformt wurde der Sound von Joy Division aber 1979 bei den Aufnahmen zu ihrem ersten richtigen Album: „Unknown Pleasures“. Der Produzent Martin Hannett nahm den Titel der Platte wörtlich und suchte wie besessen nach ungehörten Klangfreuden. Dafür nahm er nicht nur das Geräusch einer Sprühdose oder gekauter Cornflakes auf, er zwang auch den Schlagzeuger der Band, zum menschlichen Drum Computer zu werden. Denn Hannett wollte den Klang der verschiedenen Trommeln und Becken mit einem der ersten digitalen Hallgeräte bearbeiten und liess dazu Stephen Morris jedes Element seines Schlagzeugs einzeln spielen – tagelang. Auch die anderen Mitglieder von Joy Division litten während der Aufnahmen. „Spielt schneller, aber langsamer“, beschied Hannett den Musikern. Oder: „Versucht es mal auf die gelbe Art.“ Tatsächlich war der genialische Soundtüftler stark drogensüchtig und starb mit 42 Jahren an Herzversagen.
„Unknown Pleasures“, von der Kritik umjubelt, erschien im Juni 1979 bei Factory Records, einem neuen Label in Manchester, dessen exzentrischer Chef Tony Wilson den Musikern alle Rechte an ihren Songs zusicherte und den entsprechenden Vertrag mit seinem Blut unterschrieb. Doch es waren nicht nur Stücke wie „Disorder“, „New Dawn Fades“ oder „She’s Lost Control“, die Wilson begeisterten – die Bühnenpräsenz von Ian Curtis stellte mittlerweile sogar die seiner Vorbilder Jim Morrison oder Iggy Pop in den Schatten. Während des langen Intros zum Song „Dead Souls“, mit dem die Band ihre Konzerte oft begann, nahm der Sänger – einem Schamanen gleich – die Schwingungen seiner Kollegen und die des Publikums auf. Danach entschied sich Curtis, wie weit die Reise an diesem Abend gehen sollte. Nicht selten erlitt er dabei einen epileptischen Anfall – die Krankheit wurde bei ihm im Januar 1979 diagnostiziert. Dass die Konzertbesucher die spastischen Zuckungen des Sängers als Teil seiner Performance missdeuteten, verarbeitete Curtis im Song „Atrocity Exhibition“, dem ersten Stück auf „Closer“, dem zweiten Album von Joy Division.
Die Platte erschien im Juli 1980 und wurde erneut von Martin Hannett produziert, der jetzt auch Synthesizer einsetzte, um Curtis’ düstere Texte zu vertonen. Bernard Sumner an der Gitarre und Peter Hook am Bass protestierten. Doch Hannett liess sich nicht beirren und vertrieb die Störenfriede, indem er im Studio die Klimaanlage voll aufdrehte. „Es war so kalt, dass wir unseren Atem sehen konnten“, erinnert sich Sumner.
„Closer“ gilt als Meilenstein der Musikgeschichte. Noch fesselnder und verstörender als „Unknown Pleasures“, inspirierte das Album Bands wie U2, Nirvana oder die Smashing Pumpkins. Auch neuere Gruppen wie Interpol oder Editors sind stark von Joy Division beeinflusst.
Das Traurige ist: Als „Closer“ erschien, hörte man darauf einen Toten singen. In den frühen Morgenstunden des 18. Mai 1980 erhängte sich Ian Curtis in der Wohnung in der Nähe von Manchester, wo er zusammen mit seiner Frau und seiner einjährigen Tochter lebte. Am folgenden Tag wären Joy Division in den USA auf Tour gegangen.
Für Curtis’ Umfeld war die Nachricht seines Selbstmords ein Schock. Doch in Wahrheit hatten ihn die morbiden Songtexte auf „Closer“ angekündigt. Auch zeigte das Bild auf dem Plattencover, von Ian Curtis selbst ausgesucht, ein Grabmal.
Was genau den Sänger in den Suizid trieb, ist bis heute rätselhaft. Waren es die Medikamente, die er gegen seine Epilepsie einnahm und die starke Stimmungsschwankungen auslösten? War es das unheilvolle Liebesdreieck zwischen Curtis, seiner Frau Deborah und Annik Honoré, einer belgischen Musikjournalistin? Vielleicht war es auch einfach Curtis’ Faszination mit dem Mythos des jung verstorbenen Rockstars – mit Janis Joplin, Jim Morrison oder Jimi Hendrix, die alle nur 27 wurden. „Ich werde früh sterben“, hatte Curtis seiner Frau stets gesagt.
Seine letzte Ruhe fand der Sänger von Joy Division auf dem Friedhof von Macclesfield im Süden von Manchester, unter einem Grabstein mit der Inschrift „Love Will Tear Us Apart“ – dem Titel des wohl bekanntesten Lieds der Band. Es beginnt wie ein Punksong, doch dann erhebt sich über dem rohen Akkord eine Melodie, die so überirdisch schön ist, dass sie nicht nur von Curtis’ Stimme getragen werden will, sondern auch von Peter Hooks Bass und – Produzent Martin Hannett setzte sich einmal mehr durch – von einem Synthesizer.
Am Tag nach dem frühen Tod ihres Sängers lösten sich Joy Division auf. Vielleicht ist dies das Geheimnis ihres bis heute anhaltenden Ruhms. Die Musik der Band wich der Stille, bevor sie ihren Zauber verlor.
Der Autor hat auf Spotify eine Playlist mit seinen Lieblingssongs von Joy Division erstellt.