Ich, Mark Zuckerberg

Ali Blackwell von Decoded: „Ihr habt doch schon einmal Befehle gegeben, oder?“


Zwischen Morgenkaffee und Feierabendbier mal eben PROGRAMMIEREN lernen? „Kein Problem“, verspricht das Londoner Start-up Decoded. Aber klappt das auch bei einem mathematischen Legastheniker? Und warum sollte ich überhaupt programmieren wollen?

NZZ am Sonntag, 24. November 2013 · Lesedauer 5 Min.

Das ist der Plan: Geld und Macht wie Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook. Oder Geld und Macht wie Larry Page und Sergey Brin, die Entwickler von Google. Und wenn das nicht klappt, dann wenigstens bei Facebook oder Google arbeiten. Ein Billardtisch im Büro, leckeres Gratisessen, und die Wäsche wird auch gemacht. Es ist, als würde man bei Mutti arbeiten. Und all das aus einem einfachen Grund: Ich kann programmieren – oder „coden“, wie die Profis sagen. Also: Wo lerne ich das möglichst rasch? Wo fängt mein neues Leben an?

Geht es nach der Jury des „Veuve Clicquot New Generation Award“, ist das in einem Backsteingebäude im Londoner Silicon-Valley-Stadtteil Shoreditch. Decoded heisst das dort ansässige Start-up, dessen Mitgründerin Kathryn Parsons vergangenen April den begehrten Jungunternehmerpreis gewann. Acht Monate hatte das 32-jährige It-Girl der britischen IT-Branche mit drei Partnern an ihrem Kurs „Code in a Day“ gefeilt: Was muss man können, damit man nach nur einem Tag eine Webseite programmieren kann?

Die Antwort ist: erstaunlich wenig. Vorausgesetzt, man lernt das Richtige. Als erstes machen uns unsere Lehrer Ali Blackwell (auch er einer der Decoded-Gründer) und Olly Rees (ein Online-Tausendsassa, der sich als Zehnjähriger das Programmieren beibrachte) mit der Geschichte des Internets vertraut. Danach vermitteln sie uns die Grundlagen zweier Programmiersprachen: HTML für Struktur und Inhalt einer Webseite und CSS für das Design. Nach dem Mittagessen – gesunder Brain Food – geht es mit JavaScript weiter, einer dritten Programmiersprache, die Webseiten interaktiv macht. Und am späten Nachmittag programmieren wir eine App, die auf jedem Computer, Tablet und Smartphone läuft – GPS-Anbindung inklusive.

Wir – das sind ein Dutzend Programmiernovizen zwischen 18 und 55, die den gut 600 Franken teuren Crashkurs aus ganz verschiedenen Gründen gebucht haben. Die einen möchten mal „einen Zeh ins Programmierwasser halten, um die Temperatur zu fühlen“. Die anderen haben genug von Meetings mit Programmierern, in denen keiner den anderen versteht: sie nicht die Programmierer, und die Programmierer nicht sie. Und wieder andere finden, dass Programmieren „so essenziell geworden ist wie Lesen und Schreiben“.

Dem würde der Medienphilosoph Douglas Rushkoff beipflichten. „In der Zukunft wirst du entweder die Software schreiben oder die Software sein“, menetekelt er in seinem Buch „Program or be programmed“. Oder anders formuliert: Man muss nicht wissen, wie ein Computerprogramm entstanden ist, um es zu verwenden. Aber wer es weiss, kann verhindern, dass er eines Tages durch ein Computerprogramm ersetzt wird. Oder er kann dafür sorgen, dass das anderen passiert – und dadurch sehr, sehr reich werden.

So wie das Jeff Bezos getan hat, der Gründer von Amazon – noch so einer, dessen Geld und Macht ich gerne hätte. Der Informatiker mit Princeton-Abschluss sah Mitte der neunziger Jahre, dass die traditionelle Buchhandlung reif war für das, was Ökonomen eine Disruption nennen – die radikale Umstülpung eines seit Jahrzehnten unveränderten Geschäftsmodells. Die persönliche Beratung durch den Buchhändler meines Vertrauens? Ersetzen wir durch lesergenerierte Rezensionen und ein Fünf-Sterne-System. Dazu noch knallhart kalkulierte Dumping-Preise, und über dem Buchhandel brach ein digitaler Feuersturm los, der die zweitgrösste US-Buchhandelskette Borders in den Konkurs zwang. (Auch die grösste, Barnes & Noble, solle massiv schwächeln.)

Diesem Schicksal zu entgehen, ist keine Hexerei. „Programmieren heisst, Befehle zu geben“, machen uns unsere Lehrer Ali und Olly Mut: „Ihr habt doch schon einmal Befehle gegeben, oder? Also könnt ihr auch programmieren.“ Und tatsächlich: Grundkenntnisse erwirbt man in einem Tag. Den Rest lernt man schneller, als man den Führerausweis macht. Vor allem weil das Internet jede Menge kostenlose Programmierzeilen bereithält, die man einfach für seine eigenen Zwecke anpasst. Ja, Coden ist im Grunde Copy/Pasten. Aber nicht im Stile eines früheren deutschen Verteidigungsministers, sondern mit dem völligen Einverständnis der Urheber. „Ein Programmierer ist wie ein DJ“, sagt Olly: „Er arbeitet mit vorhandenem Material.“ Die benötigten Code-Module werden sogar in gewaltigen Online-Bibliotheken wie etwa jQuery gesammelt und bequem zugänglich gemacht.

Noch Fragen? Dann stellt man diese in einem Online-Forum wie Stack Overflow der Programmierer-Community. In der Regel geht es nur wenige Minuten, bis einem ein netter Experte weiterhilft. Kurz: Man programmiert nie allein, sondern mit unzähligen anderen. Und ich traue meinen Augen nicht: Mit einem einfachen Rechtsclick auf der Computermaus lässt sich der Quellcode jeder beliebigen Webseite anzeigen und übernehmen.

Darum leihen wir jetzt munter digitale Versatzstücke aus, als wir uns auf der Zielgeraden zu unserer ersten eigenen Smartphone-App befinden. Beziehungsweise: Bei mir sind es gleich zwei: Der „SVP-Radar“ für SP-Wähler, die verhindern wollen, dass sie dem Generalsekretariat der SVP Schweiz an der Brückfeldstrasse 18 in Bern zu nahe kommen. Und eine geringfügig modifizierte Version meiner App, die SVP-Wähler vor der SP-Zentrale an der Spitalgasse 34 in Bern warnt.

Zugegeben: Nicht die notwendigsten Programme der Welt. Aber auch nicht die unnützesten. Und überhaupt geht es ja bei „Code in a Day“ um etwas Grösseres, Philosophischeres. Nämlich darum, einen Kulturgraben von der Breite des Grand Canyon zuzuschütten. Zwischen denen, die programmieren können, und denen, die digitale Analphabeten sind. „Code ist die kreative und kommerzielle Sprache der Zukunft“, verkündet der frühere Starwerber Steve Henry, der ebenfalls zum Gründungsteam von Decoded gehört. Und sein Crashkurs beweist: Um diese neue Sprache zu beherrschen, braucht es weder eine besondere Faszination für Bits und Bytes noch die Besessenheit eines Nerds, der für nichts anderes Zeit hat als digitale Nullen und Einsen. „Addieren, subtrahieren – mehr ist am Programmieren eigentlich nicht dran“, meinte einmal Bill Gates – noch so einer, dessen Geld und Macht ich gerne hätte. Zumindest dachte ich das bis anhin …

17.56 Uhr, das Feierabendbier macht „zisch“ und meine fertig programmierte App zeigt an, dass ich vom Generalsekretariat der SVP 747 km und von der SP-Zentrale 748 km Luftlinie entfernt bin. Beides äusserst beruhigend, und doch habe ich nach meiner digitalen Erleuchtung ein Problem, das auch mit dem zweiten Bier nicht verschwindet: Jetzt, wo ich weiss, wie einfach Programmieren im Grunde ist, bleibe ich da wie bis anhin ein blosser Zuschauer der digitalen Transformation unserer Welt oder beteilige ich mich daran? Schlucke ich wie Keanu Reeves in „The Matrix“ die rote Kapsel und verbringe den Rest meines Lebens im digitalen Wunderland? Oder schlucke ich die blaue und habe schon morgen alles wieder vergessen, was ich heute gelernt habe?

Beim dritten Feierabendbier ziehe ich mein iPhone aus der Hosentasche und lade mir die Gratis-App Toss-Up herunter, mit der man eine virtuelle Münze werfen kann.

„Kopf ist die rote Kapsel“, entscheide ich mich.

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