Lob der Todsünden

Der Jahreswechsel ist der Moment, wo man gute Vorsätze fasst. Doch die Wissenschaft zeigt, dass es gerade die TODSÜNDEN sind, die uns zu besseren Menschen werden lassen. Eine Wiedergutmachung.

NZZ am Sonntag, 21. Dezember 2014 · Lesedauer 4 Min.

1. Wollust macht kunstsinnig
Der Evolutionsbiologe Geoffrey Miller ist überzeugt: Die Wollust bewahrt uns nicht nur vor dem Aussterben. Sie hat auch zur Entstehung der schönen Künste geführt. Tatsächlich belegen Umfragen, dass Männer und Frauen in kreativen Berufen besonders begehrt sind. Gleichzeitig zeigt ein Experiment des Sozialpsychologen Vladas Griskevicius, dass Wollust die Kreativität fördert. Als erstes bat der Wissenschaftler Probanden, sich ein Rendez-vous mit einer attraktiven Person vorzustellen. Danach mussten die Versuchsteilnehmer eine Kurzgeschichte schreiben. Verglichen mit den Texten von Personen, die sich kein romantisches Tête-à-tête ausgemalt hatten, fielen diese um einiges gelungener aus. Instinktiv müssen die Probanden gewusst haben: Je besser ihre Story, desto grösser ihre Chancen beim anderen Geschlecht. Kurz: Die schönen Künste haben dieselbe Funktion wie die Schwanzfedern eines Pfaus – sie schaffen einen sexuellen Selektionsvorteil. Sind Sie zu faul fürs Fitnessstudio? Dann lesen Sie zumindest Thomas Mann.

2. Völlerei macht wohltätig
Eine zweite Todsünde wird von der Ökonomin Barbara Briers rehabilitiert. In einem Experiment bat sie zwei Versuchsgruppen, einen halben Tag lang nichts zu essen. Als die erste Gruppe hungrig im Labor erschien, durften die Probanden ein grosses Stück Kuchen verschlingen. Danach wurden sie gefragt, ob sie für eine wohltätige Organisation spenden würden. Eine zweite Gruppe von Versuchsteilnehmern bekam kein Stück Kuchen, bevor sie über ihre Spendenbereitschaft Auskunft gab. Das Ergebnis: Die Probanden, die zuvor Kuchen gegessen hatten, waren viel eher geneigt zu spenden. Der Grund dafür liegt laut Briers im orbitofrontalen Kortex, einem Bereich in unserem Gehirn, für den Nahrung und Geld austauschbare Ressourcen sind. Wer hungrig ist, gibt nicht nur weniger gerne Essen ab – er hortet auch sein Geld. Darum ein kostenloser Tipp für die katholische Kirche: Je dicker die Hostien, desto voller die Opferstöcke am Ende der Messe.

3. Neid macht erfolgreich
Was lässt sich alles mit einem gewöhnlichen Backstein anfangen, ausser damit eine Mauer zu bauen? Mit solchen Tests messen Psychologen Kreativität. Die Wissenschaftler Camille Johnson und Diederik Stapel machten dabei ein interessantes Experiment. Wenn Studenten vor dem Backstein-Test einen Text lesen, der einen besonders klugen und beliebten Kommilitonen beschreibt, erhöht dies die Anzahl alternativer Verwendungsmethoden, die ihnen einfallen. Die Eifersucht auf den erfolgreicheren Kommilitonen macht die Studenten selbst erfolgreicher, der Aufwärtsvergleich mit ihm motiviert und inspiriert. „Eine giftige Kröte, die in finsteren Löchern lauert“ – so geisselt der Philosoph Arthur Schopenhauer den Neid. Und doch gäbe es sein Werk nicht ohne Schopenhauers legendäre Missgunst auf den erfolgreicheren Kollegen Hegel, diesen „ganz erbärmlichen Scharlatan“. (Nachtrag: Wie uns der bekannte Wissenschaftsautor Rolf Degen berichtet, verdankt sich offenbar auch die Studie von Camille Johnson und Diederik Stapel dem Neid auf erfolgreichere Kollegen – sie wurde wegen Datenfälschung zurückgezogen. Dennoch ist der beschriebene Priming-Effekt in zahlreichen Untersuchungen belegt.)

4. Hochmut macht fleissig
Erfolg macht stolz, was das Selbstvertrauen stärkt, was zu noch mehr Erfolg führt, was abermals stolz macht, was wiederum das Selbstvertrauen stärkt. Die Psychologen Lisa Williams und David DeSteno fragten sich: Kann man diesen Prozess auch umkehren? Kann Stolz nicht nur die Wirkung von Erfolg sein, sondern auch seine Ursache? Darum führten sie folgendes Experiment durch: Nach einem Test, in dem Studenten die Anzahl roter Punkte auf einem Blatt Papier schätzen mussten, zeigten sich die Wissenschaftler schwer beeindruckt von den Leistungen der Versuchsteilnehmer, spielten allerdings nur Theater – es ging den Psychologen einzig darum, die Probanden mit Stolz zu erfüllen. Danach kam der Teil des Experiments, der die Wissenschaftler in Wahrheit interessierte: Wie lange würden sich die Studenten mit einem Test beschäftigen, bei dem es dreidimensionale geometrische Figuren miteinander zu vergleichen gilt – eine äusserst mühsame Angelegenheit. Das Resultat: Die bis zum Hochmut stolz gemachten Studenten schnitten bei diesem zweiten Test deutlich besser ab als Probanden, deren Selbstvertrauen nicht künstlich gestärkt wurde. Es ist eine Binse der Ratgeberliteratur und doch wahr: Erfolg setzt vor allem etwas voraus – die Überzeugung, dass man Erfolg haben wird.

5. Habgier macht stark
Man darf sich fragen, wie Psychologen auf solche Experimente kommen. Tatsache ist: Versuchspersonen können ihre Hände besonders lang in heisses Wasser halten, nachdem sie ein dickes Bündel Banknoten gezählt haben. Die Sozialpsychologin Kathleen Vohs, die dieses Experiment durchführte, erklärt sich das so: Reichtum stärkt und befähigt uns in einem solchen Masse, dass schon der blosse Gedanke an Geld unsere Widerstandskraft erhöht – nicht nur gegenüber physischen Schmerzen, sondern auch gegenüber psychischen. Das weist Vohs in einem zweiten Experiment nach: Versuchsteilnehmer, die zuvor Banknoten gezählt haben, empfinden den Ausschluss aus einer Gruppe als weit weniger schmerzhaft als Probanden, deren Habgier nicht geweckt wurde. Haben Sie sich schon immer gefragt, warum Christoph Blocher kein Problem damit hat, für viele Schweizer das Feindbild schlechthin zu sein? Die Antwort ist einfach: Er ist Milliardär.

6. Faulheit macht kreativ
Kreativitätsforscher sind sich einig: Der grossen Idee, dem erhellenden Aha-Moment geht immer eine Phase der Entspannung voraus. Diese kann unter der Dusche, beim Abstauben oder beim Einräumen des Geschirrspülers erfolgen – Hauptsache, wir denken nicht aktiv über das Problem nach, das wir lösen wollen. Vor allem der Schlaf – der Inbegriff des Müssiggangs – macht uns kreativ, wie Robert Stickgold von der Harvard Medical School weiss. Seine Studien belegen: Während wir schlafen, ist unser Gehirn hellwach und verarbeitetet die Informationen, die wir ihm am Tag zugeführt haben. Es strukturiert und verknüpft sie, nimmt sie auseinander und setzt sie neu zusammen. Nach dem Aufwachen sind sie dann auf einmal da – die Idee oder die Lösung, die uns beim bewussten Nachdenken partout nicht einfallen wollten. Sie möchten bessere Ideen haben? Bügeln Sie Ihre Hemden selbst.

7. Zorn macht gerecht
Das sogenannte Ultimatum-Spiel liefert den wohl klarsten Beweis dafür, dass der von der klassischen Wirtschaftslehre postulierte „Homo oeconomicus“ eine Illusion ist: Ein Versuchsteilnehmer bekommt 10 Franken, darf diese aber nur behalten, wenn er einer anderen Person einen Teil davon abgibt. Die Herausforderung: Wenn diese Person den Anteil, den sie bekommt, zu klein findet, müssen die 10 Franken an den Versuchsleiter zurückgegeben werden. Kein Problem, würde man denken: Gemäss der klassischen Wirtschaftslehre müssten der zweiten Person schon 5 Rappen genügen, und das „Geschäft“ käme zustande. Tatsächlich aber führen Beträge unter 4 Franken häufig dazu, dass der Deal platzt. Den Grund dafür sieht der Psychologe Joydeep Srivastava im Zorn, der die Versuchsteilnehmer erfasst, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Lieber bestrafen sie das ungerechte Verhalten ihres Gegenübers, als dass sie von ihm Geld geschenkt bekommen. Zorn ist insofern keine negative Emotion, sondern eine positive. Er stärkt unseren Gerechtigkeitssinn, er macht uns zu moralischen Wesen.

Kann Moral eine Todsünde sein? Oder könnten dies Kreativität, Widerstandskraft, Fleiss, Erfolg, Wohltätigkeit, Kunst? Sündigen Sie, um Gottes willen. Sündigen Sie!

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