Intellectronica

Gilbert & George des Synthiepop: Chris Lowe und Neil Tennant von den Pet Shop Boys


Fast wäre das musikalische Genie der PET SHOP BOYS im Berliner Technoclub Berghain erloschen. Auf ihrem neuen Album mischen sie aber wieder gekonnt Disco mit Diskurs.

Weltwoche, 13. Juni 2024 · Lesedauer 3 Min.

Hätte Neil Tennant von den Pet Shop Boys mehr Ahnung von Synthesizern gehabt, wäre eine der erfolgreichsten Elektropop-Bands nicht entstanden.

Tennant – seit Teenagertagen Hobbymusiker – versuchte im August 1981, seinem frisch gekauften Korg MS-10 so faszinierende Klänge zu entlocken wie die von Kraftwerk auf den Alben „Die Mensch-Maschine“ und „Computerwelt“. Doch ganz egal, wie verzweifelt der Brite an den Knöpfchen drehte – das elektronische Tasteninstrument blieb so stumm wie ein Stein. Bis der studierte Historiker merkte, dass ein Synthesizer keinen Lautsprecher hat – er ist ja auch keine Heimorgel.

Und so musste sie denn kommen, die Geburtsstunde der Pet Shop Boys, die eigentlich „HiFi Shop Boys“ heissen müssten: Während sich Tennant ein Kabel löten liess, um seinen Korg mit der heimischen Stereoanlage zu verbinden, plauderte er mit einem weiteren Kunden im Audio-Fachgeschäft: Chris Lowe, fünf Jahre jünger, angehender Architekt, ebenfalls Hobbymusiker und – vor allem – ebenfalls Fan dieser neuen und aufregenden elektronischen Popmusik, die gerade die britischen Charts eroberte.

Würden die beiden Nordengländer hinkriegen, was Bands wie The Human League, Depeche Mode, Soft Cell oder Orchestral Manoeuvres in the Dark vorgemacht hatten? Und wie sie das konnten! Rasch entstanden gemeinsame Songs, darunter bereits Synthiepop-Perlen wie „Jealousy“, „Rent“ oder „Opportunities (Let’s Make Lots of Money)“, die erst Jahre später aufgenommen werden sollten.

Tatsächlich war Neil Tennant beim Durchbruch der Pet Shop Boys mit „West End Girls“ schon 31 und damit der älteste frisch gebackene Popstar der Welt. Dafür durfte er sich zusammen mit Chris Lowe aber auch als Begründer eines neuen Genres fühlen: Intellectronica – elektronische Musik mit schlauen Texten über Themen, die man in den geistigen Untiefen der Hitparaden sonst vergeblich sucht: vom Psychogramm desorientierter Vorstadtjugendlicher im Song „Suburbia“ über die Kritik an Thatchers Privatisierungsfuror in „Shopping“ bis hin zur meisterhaften Elegie an die Vergänglichkeit in „Being Boring“ – Rilke als Synthiepopper.

Nach einer imperialen Phase, in der die Pet Shop Boys während fast 25 Jahren nur eine Handvoll schlechter Songs einspielten (darunter freilich ihr bis heute grösster Hit: das schrecklich überproduzierte „It’s a Sin“), verliebten sich Lowe und Tennant Anfang der 2010er Jahre in die Berliner Technoszene. Das bekam den zwei Briten offenbar nicht gut, denn auf ihren vergangenen vier Alben muss man die gelungenen Songs suchen, wenn sie denn überhaupt Lieder enthalten und nicht nur tumbes Bummbummbumm. Tatsächlich schien das musikalische Genie der Band, das sich nicht zuletzt dem Londoner Gay-Club Heaven verdankt, wo sich Lowe und Tennant in den frühen 1980er Jahren von Hi-NRG-Hymnen wie „Native Love“ elektrisieren liessen, in einem weiteren Club zu erlöschen – dem Berliner Berghain.

Zu ihrem Glück haben das die zwei Jungs aus der Zoohandlung nun aber gemerkt – und auch zu unserem. Gewiss: „Nonetheless“, ihr unlängst erschienenes 15. Studioalbum, ist kein „Please“ und kein „Behaviour“ geworden, kein „Bilingual“ und kein „Fundamental“. Und doch – oder eben: nonetheless – vermag ihr neustes Werk mit Tracks wie „Loneliness“ oder „Dancing Star“ an jene Zeiten zu erinnern, als zwei Fremde in einem Londoner Audio-Fachgeschäft miteinander ins Gespräch kamen und beschlossen, Disco mit Diskurs zu mischen und so der Welt ein paar der klügsten Popsongs überhaupt zu schenken – und auch ein paar der besten.

Pet Shop Boys: Nonetheless (Parlophone) auf Spotify

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