
Synthesizer und Rhythmusmaschinen statt Gitarre, Bass und Schlagzeug: Mit dem Album „Autobahn“ erfanden KRAFTWERK vor 50 Jahren die Musik der Zukunft. Obwohl mittlerweile nur noch Kuratorin ihrer selbst, bleibt die Band enorm einflussreich.
Weltwoche, 31. Oktober 2024 · Lesedauer 16 Min.
Drei der grössten Rätsel der Popgeschichte sind: a) Warum wurde die deutsche Band Kraftwerk plötzlich so gut? b) Warum wurde sie plötzlich so schlecht? Und c) Warum sollte man Kraftwerk das nicht übelnehmen?
Um das erste Rätsel aufzulösen, müssen wir zurück ins Jahr 1970, als die beiden Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter und Florian Schneider noch nicht wie Roboter wirken wollten, sondern mit ihren langen Haaren, den schwarzen Lederjacken und den Jeans mit Schlag wie gewöhnliche RAF-Terroristen aussahen.
Tatsächlich rebellierten die zwei Düsseldorfer damals ebenso radikal gegen die klassische Rockmusik wie die Baader-Meinhof-Bande gegen das kapitalistische System. An der Seite weiterer deutscher Bands – darunter Can, Cluster oder Popol Vuh – wollten Hütter und Schneider die festgefahrenen Song-Strukturen von altbackenen Rockern wie den Rolling Stones oder Led Zeppelin überwinden und so klingen, wie eine andere avantgardistische deutsche Formation der frühen 1970er Jahre hiess: Neu!
Für die ungewohnten Töne, die so entstanden, prägte die britische Musikpresse das Label „Krautrock“, vom Schimpfwort „Krauts“ für deutsche Soldaten in den beiden Weltkriegen. Gleichzeitig musste man beim „Melody Maker“ oder „New Musical Express“ aber auch anerkennen, wie innovativ die Klänge waren, die da aus Berlin, Düsseldorf, Hamburg oder München über den Ärmelkanal schallten, oft unterlegt mit treibenden Rhythmen im Viervierteltakt.
Auch die ersten beiden Kraftwerk-Alben pulsierten hypnotisch. Dabei kamen auf dem selbstbetitelten Debüt von 1970 und auf „Kraftwerk 2“ von 1972 noch konventionelle Instrumente zum Einsatz, neben Schlagzeug vor allem Gitarre, Bass, Hammond-Orgel, Querflöte und Violine.
Synthesizer-Symphonie
Erst auf „Ralf und Florian“ – dem dritten Album von 1973 – waren zum ersten Mal auch jene Instrumente zu hören, mit denen die Düsseldorfer bis heute wie keine andere Band in Verbindung gebracht werden: Synthesizer und Rhythmusmaschinen – elektronische Klangerzeuger, mit denen weitere Krautrocker ebenfalls experimentierten, allen voran Tangerine Dream und der Solomusiker Klaus Schulze.
In der Komposition „Ananas Symphonie“ vernahm man noch einen weiteren neuen Klang, der für den späteren Kraftwerk-Sound typisch werden sollte: Florian Schneider hatte sich einen der ersten Vocoder bauen lassen, mit dem sich die menschliche Stimme verfremden und über eine Klaviatur spielbar machen lässt.
Trotz des zunehmend elektronischen Charakters von „Ralf und Florian“ gehört das Album mittlerweile zu den Apokryphen der Kraftwerk-Diskographie und ist wie die beiden Vorgängerwerke nicht mehr offiziell erhältlich. Zu Unrecht, denn Stücke wie das 17-minütige „Klingklang“ auf „Kraftwerk 2“ mit seinem motorischen Beat und repetitiven Bassriff offenbaren, dass die im November 1974 erschienene Synthesizer-Symphonie „Autobahn“, mit der Kraftwerk vor 50 Jahren der kommerzielle Durchbruch gelang, musikalische Zufahrten hat.
Tatsächlich verweist die elektronische Vertonung einer Autofahrt von Düsseldorf nach Hamburg mindestens so sehr in die Vergangenheit der Band wie in ihre Zukunft, ist ebenso sehr Krautrock wie Elektropop. Davon zeugen nicht nur die psychedelisch wabernden Passagen mit Querflöte, Gitarre und Geige im Titelstück, sondern auch die experimentellen Arrangements auf Seite 2 und – nicht zuletzt – das Bild auf der Rückseite der ursprünglichen Albumhülle, das Ralf Hütter noch als Späthippie mit langen Haaren und Oma-Brille zeigt, während Florian Schneider immerhin vor ein paar Wochen beim Frisör war.
„Fun Fun Fun“ auf der Autobahn
Dennoch ist offensichtlich: Zwischen den über 22 Minuten von „Autobahn“ und Kraftwerks drei früheren Alben klafft klanglich eine Kluft, die ähnlich gross ist wie die zwischen Genesis unter der musikalischen Ägide von Peter Gabriel („The Lamb Lies Down on Broadway“) und derselben Band unter der kreativen Führung von Phil Collins („Invisible Touch“).
Konkret: Während sich der klassische Krautrock dem Einfluss angelsächsischer Bands verweigerte, um so eine eigene und spezifisch deutsche musikalische Identität zu entwickeln, liessen sich Hütter und Schneider für „Autobahn“ von einem Pop-Quintett inspirieren, das sie insgeheim schon immer gerne hörten – den Beach Boys. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten zwischen dem Song „Barbara Ann“ der Kalifornier und dem Refrain „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ unverkennbar, zumal die ersten Gesangszeilen auf einem Kraftwerk-Album auch noch wie „Fun Fun Fun“ klingen – ebenfalls ein Beach-Boys-Song.
Es sind aber die Passagen in der Mitte von „Autobahn“, die dafür sorgen, dass man Kraftwerks Krautpop-Suite wohl auch noch in weiteren 50 Jahren als musikalischen Meilenstein feiern wird: Nachdem Hütter und Schneider ihren elektronischen Klangerzeugern die Geräusche vorbeifahrender Autos inklusive Huper entlockt haben, werden sie dieser effekthascherischen Spielereien zum Glück müde und lassen über den treibenden Beats von Rhythmusmaschinen und einem sich ständig wiederholen sirrenden Bass-Bumm den Klang eines einsamen Synthesizers emporsteigen.
Zwischen Stripclubs und Dönerbuden
Nichts, was 1974 sonst noch in die Plattenläden kam, war so sehr Zukunftsmusik wie diese 145 Sekunden. Nur konsequent darum, dass Kraftwerk auf „Radio-Aktivität“ – dem fünften Album der Band vom Oktober 1975 – auf alle herkömmlichen Instrumente verzichteten und sich fortan als Produzenten von rein synthetischer und damit ausschliesslich maschinengemachter Musik verstanden.
Auch personell hatten sich die Düsseldorfer gefunden: Während Jahren in wechselnder Besetzung unterwegs, präsentierten sich Kraftwerk fortan als festes Quartett, mit Hütter und Schneider als – im Übrigen deutlich besser bezahlten – Chefs, die sich musikalisch von Karl Bartos und Wolfgang Flür unterstützen liessen. Die John, Paul, George und Ringo der elektronischen Popmusik waren geboren.
Konzeptionell war „Radio-Aktivität“ weder Fisch noch Vogel, wie schon der Bindestrich im kalauernden Albumtitel offenbart. Zum einen wollten Kraftwerk die so faszinierende wie bedrohliche Kraft der Radioaktivität vertonen („Geigerzähler“, „Uran“, „Die Stimme der Energie“). Zum anderen war die Platte eine Hommage an die Magie des neuen Massenmediums Rundfunk in den 1920er Jahren, als auf einmal Radiowellen wie auf Geisterschwingen Sprache und Musik übertragen konnten („Ätherwellen“, „Antenne“, „Transistor“).
Was „Radio-Aktivität“ an konzeptioneller Konsistenz fehlte, machte das Album mit musikalischer Innovation wett, vor allem dank der kunstvollen Verfremdung von Stimmen mit Vocodern. Tatsächlich fand David Bowie – damals einer der grössten Popstars überhaupt – die neuste Veröffentlichung der Düsseldorfer so überzeugend, dass er Kraftwerk als Vorgruppe für seine nächste Tournee engagieren wollte. Auf ihre artistische Eigenständigkeit bedacht, lehnten Hütter und Schneider allerdings dankend ab und zogen sich stattdessen in ihr mittlerweile bestens ausgerüstetes Kling-Klang-Studio an der Mintropstrasse 16 im Düsseldorfer Bahnhofsviertel zurück, um dort zwischen Stripclubs und Dönerbuden an ihrem nächsten Album zu arbeiten.
Biedere Musik-Laboranten
Es wurde ihr erstes Meisterwerk. Mit Melodien, die an die späte Romantik und frühe Moderne, allen voran Debussy und Schuberth, erinnerten, evozierte „Trans Europa Express“ – erschienen im März 1977 – wie „Autobahn“ eine Reise. Allerdings nicht durch Deutschland im PKW, sondern durch Europa im Zug.
„Düsseldorf ist nur 20 Minuten von Holland entfernt“, kommentierte Ralf Hütter das Konzept der neuen Platte, „wenig mehr als eine halbe Stunde von Belgien und kaum zwei Stunden von Frankreich.“ Vielleicht wurde „Trans Europa Express“ aber auch schlicht durch genau jene Konzerttournee inspiriert, an der Kraftwerk partout nicht mitwirken wollten – die für David Bowies neues Album „Station to Station“.
Klanglich hoben Kompositionen wie „Europa Endlos“ die Band in neue Sphären. Verantwortlich dafür war der „Synthanorma-Sequenzer mit Intervallomat“, den sich Ralf Hütter für viel Geld hatten bauen lassen. Das Gerät aus der Synthesizer-Schmiede Matten & Wiechers in Bonn ermöglichte die Erzeugung repetitiver Klangmuster mit bis zu 64 Tönen – ein kristallklarer Sound vollendeter Präzision entstand.
Neben der musikalischen war mit der Veröffentlichung von „Trans Europa Express“ auch die visuelle Identitätsbildung der Band abgeschlossen. Das Quartett präsentierte sich fortan konsequent als biedere Musik-Laboranten, die statt an neuen Medikamenten an neuen Klängen tüfteln. „Bei uns schwitzt keiner“, meinte Ralf Hütter, um Kraftwerk von den klassischen Rockbands abzugrenzen, die sich auf der Bühne in endlosen Gitarren- und Schlagzeug-Soli verausgabten: „Wir transpirieren höchstens, weil uns heiss oder kalt wird vor nervlicher Anstrengung.“
In Wahrheit schwitzten Kraftwerk durchaus. Und zwar dann, wenn sie in Düsseldorfer In-Discos wie dem Cabaret zu schwarzer Musik tanzten – allen voran James Brown, dessen knochentrockener Funk Karl Bartos und Wolfgang Flür zu den minimalistischen Synkopen ihres elektronischen Schlagzeugs für „Trans Europa Express“ oder „Nummern“ inspirierte.
Tatsächlich waren die Beats und Hooks auf dem neuen Kraftwerk-Album so unwiderstehlich, dass sie der New Yorker Hip-Hop-DJ Afrika Bambaataa für sein epochales Electro-Album „Planet Rock“ von 1986 klaute. Eines der wenige Male, wo Weisse nicht – wie im Fall von Jazz, Blues oder Rock ’n’ Roll – von der Musik der Schwarzen stahlen, sondern ihr etwas zurückgaben.
Kommissar Computer
Doch: So sehr die Klänge von Kraftwerk auf „Trans Europa Express“ die Zukunft vorwegzunehmen schienen, so sehr stammte diese Zukunft auf dem nächsten Album der Band aus der Vergangenheit, was sich allerdings als äusserst inspirierend erwies.
Erschienen im Mai 1978 und konzipiert als Hommage an den Stummfilmklassiker „Metropolis“ von Fritz Lang aus dem Jahr 1927, schufen Kraftwerk mit „Die Mensch-Maschine“ ihr zweites Meisterwerk, randvoll mit Elektropop-Perlen wie „Die Roboter“, „Neonlicht“ sowie dem ersten klassischen Popsong der Düsseldorfer: „Das Model“.
In ihren massgeschneiderten Anzügen machten auch Ralf Hütter und Florian Schneider eine gute Figur: Auf der Suche nach einem Ausgleich zu den unzähligen Stunden im Studio hatten die beiden Ober-Kraftwerker das Rennradfahren entdeckt – durchaus passend zum Konzept des neuen Albums, lässt doch der Radsport den Menschen zum Teil einer Maschine werden. Und umgekehrt: eine Maschine zum Teil eines Menschen.
Während Hütter und Schneider über die Strassen Deutschlands pedalten, bald begleitet von Karl Bartos und Wolfgang Flür, gerieten die Musiker immer wieder in Polizeikontrollen. Tatsächlich wurde in Deutschland nach der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ und der Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer überall nach RAF-Terroristen gesucht.
Eine wichtige Rolle kam dabei Kommissar Computer zu – so der Spitzname von Horst Herold, Leiter des Bundeskriminalamts (BKA). Mit der von ihm entwickelten Rasterfahndung verglichen Rechner die Datenbanken von Einwohnermeldeämtern, Energieversorgungsunternehmen und Immobilienverwaltungen, um Mieter zu finden, die nicht angemeldet waren und ihre Rechnungen bar beglichen – für Herold ein typisches Merkmal untergetauchter Terroristen.
Datenschützer warfen dem BKA vor, dank der Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung einen Überwachungsstaat mit gläsernen Menschen schaffen zu wollen. Gleichzeitig zeigten erste Heimcomputer wie der Apple II von 1977, dass Computer auch eine andere und weniger bedrohliche Seite hatten: Man konnte mit ihnen produktiver arbeiten, effizienter lernen, einfacher kommunizieren und dank unterhaltsamer Spiele jede Menge Spass haben.
Blubber von der Datenbank
Bedrohung, aber auch Verheissung: Mit der Janusköpfigkeit der anbrechenden Digitalisierung hatten Kraftwerk das Konzept für ihr nächstes und wohl grösstes Meisterwerk gefunden: Das Album „Computerwelt“ – mit so hellsichtigen Kompositionen wie „Computer Liebe“ oder „Heimcomputer“ – wurde im Mai 1981 veröffentlicht und von einer Welttournee begleitet, bei der die Band ihr komplettes Studio auf die Bühne brachte, wo es wie die Kommandozentrale eines Ufos wirkte.
Allerdings nicht zur Freude aller. Als „Blubber von der Datenbank“ verspottete der „Spiegel“ die „simplen Synthesizer-Stückchen“ und „Maschinen-Liedchen“ der „Popmusik-Elektriker vom Rhein“. In Wahrheit sorgten Kraftwerk mit der Live-Version von „Taschenrechner“, bei der die Band mit elektronischen Miniaturinstrumenten wild tanzend die Nähe zum Publikum suchte, für einen der grossen Momente der Popgeschichte, genauso wie durch den genialischen Einfall, beim Song „Roboter“ aufwändig gefertigte Nachbildungen ihrer selbst auftreten zu lassen.
Kraftwerk-Kopien gab es mittlerweile freilich noch weitere. Dank technologischen Fortschritten und dem Konkurrenzdruck durch neue Anbieter – insbesondere aus Japan – waren Synthesizer Ende der 1970er Jahre so günstig geworden, dass sie sich nicht mehr nur Söhne aus reichem Hause wie Ralf Hütter und Florian Schneider leisten konnten. Eine Demokratisierung der musikalischen Produktionsmittel fand statt.
Nach dem Verpuffen von Punk wandten sich darum immer mehr Bands auf der Suche nach neuen Klängen elektronischen Instrumenten zu. Vor allem in England entstanden dabei Formationen, die aus dem Einfluss von Kraftwerk auf ihre Musik keinen Hehl machten, darunter The Human League, Orchestral Manoeuvres in the Dark, Depeche Mode oder Visage. Gary Numan kopierte den Androiden-Look der vier Düsseldorfer eins zu eins. Und auf „Blue Monday“ von New Order hörte man ein paar Sekunden lang tatsächlich Kraftwerk – dank eines Samples aus „Uran“ vom Album „Radio-Aktivität“.
Bald nutzten so viele britische Bands elektronische Klangerzeuger, dass die dortige Musikergewerkschaft Synthesizer und Rhythmusmaschinen als Jobkiller verbieten wollte. Nicht selten paarten die Synthiepopper dabei die Kühle der Elektronik mit der Wärme leidenschaftlicher Stimmen, so etwa bei den Duos Soft Cell, Yazoo und Eurythmics. Ein aufregender neuer Mix entstand, der auf eine zweite Inspirationsquelle für die jungen elektronischen Bands aus England zurückging: „I Feel Love“, der über acht Minuten lange futuristische Disco-Klassiker, den der Südtiroler Georgio Moroder 1977 mit der amerikanischen R’n’B-Sängerin Donna Summer aufgenommen hatte.
Verunsicherte Pioniere
Je mehr die Musik von Kraftwerk Anfang der 1980er Jahre mit dem neuen Genre Synthiepop verschmolz, desto unsicherer schienen Ralf Hütter und Florian Schneider über die weitere Entwicklung der Band zu werden.
Zu ihrer Verwirrung trugen die ersten digitalen Synthesizer mit Sampling-Technologie bei, die erlaubten, aus jedem beliebigen Geräusch Musik zu machen. Zwar überzeugte die Kraftwerk-Single „Tour de France“ von 1983 noch mit rhythmischen Schnipseln von gut geschmierten Fahrradketten und dem angestrengten Atmen eines Rennradfahrers. Danach aber schienen die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten von revolutionären neuen Synthesizern wie dem Fairlight die Düsseldorfer zu überfordern. Statt wie etwa die britische Band The Art of Noise („Beat Box“) neue digitale Klangwelten zu erkunden, verloren sich Kraftwerk im Versuch, aus Florian Schneiders Obsession für synthetische Spracherzeugung den Sound ihres nächsten Albums zu basteln. Und das geschlagene fünfeinhalb Jahre lang, da aus der Rennradleidenschaft von Ralf Hütter mittlerweile eine eigentliche Sucht geworden war und so einer der beiden Köpfe der Band im Studio meist durch Abwesenheit glänzte. Ein schwerer Fahrradunfall Hütters verzögerte die Aufnahmen zusätzlich.
Immerhin: Indem es nicht wie üblich Drogenexzesse waren, die eine Band kreativ lähmten, sondern eine Sportart, bewiesen Kraftwerk auch in dieser Hinsicht Originalität.
Künstlerischer Tiefpunkt
Als dann im Dezember 1986 endlich, endlich doch noch ein neues Album der Düsseldorfer erschien, gerade mal 36 Minuten lang, war es über weite Strecken so einfallslos wie sein Titel „Electric Café“. Die wenigen guten musikalischen Einfälle wurden endlos wiederholt, die vielen schlechten leider auch. Vor allem aber liessen Formationen wie Depeche Mode („Blasphemous Rumours“) oder Propaganda („Dr. Mabuse“) Synthesizer mittlerweile um einiges besser klingen als alles, was von den Urvätern der elektronischen Popmusik zu hören war.
Doch es sollte noch schlimmer kommen: Nach einer weiteren Funkstille von fast fünf Jahren veröffentlichten Kraftwerk 1991 das Album „The Mix“ mit Überarbeitungen ihrer grössten Hits im Stile von billigen House- und Techno-Tracks. Ein künstlerischer Tiefpunkt der Band, der umso mehr schmerzte, als die Düsseldorfer diese beiden neuen Musikgenres überhaupt erst möglich gemacht hatten.
Immerhin: Mit den 2003 veröffentlichten „Tour de France Soundtracks“ – ohne Karl Bartos und Wolfgang Flür eingespielt, denen die Egomanie der beiden Kraftwerk-Gründer mittlerweile zu viel geworden war – verwandelten Hütter und Schneider ihre jahrzehntelange Begeisterung für den Radsport in musikalische Glücksmomente. Doch obwohl das Album das Kraftwerk-Megathema „Bewegung“ um einiges konsequenter umsetzte als „Autobahn“ und „Trans Europa Express“, klang das Ganze doch nur wie eine 20 Jahre zu spät veröffentlichte Maxi-Single von „Tour de France“.
Kuratoren ihrer selbst
Seitdem sind Kraftwerk Kuratoren ihrer selbst und damit so sehr der Vergangenheit zugewandt, wie sie doch eigentlich für die Musik der Zukunft sorgen wollten. Die ersten drei Veröffentlichungen der Band – als peinliche Krautrock-Frühwerke abgetan – wurden aus dem Verkehr gezogen, diverse Plattencover umgestaltet und für das Projekt „3-D Der Katalog“ sämtliche Kompositionen seit „Autobahn“ überarbeitet. Der Titel des Albums „Electric Café“ mutierte gar zu „Techno Pop“.
Vor allem aber bieten die Konzerte der Band nun schon seit Jahrzehnten – trotz exklusiver Veranstaltungsorte wie der Tate Modern in London, trotz kunstvoller 3D-Animationen, trotz innovativer Audio-Installationen – die immer aufwändigere Inszenierung von Altem statt Neuem. „Bald“ – so lautet seit über 20 Jahren die lakonische Antwort von Ralf Hütter auf die Frage von Journalisten, wann denn endlich ein neues Kraftwerk-Album erscheine.
Nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden von Florian Schneider, der im April 2020 verstarb, ist Ralf Hütter zudem Mitglied seiner eigenen Coverband geworden, die aktuell auch noch aus Georg Bongartz, Falk Grieffenhagen und Henning Schmitz besteht. Wenn Hütter doch wenigstens neben sich drei Roboter-Versionen der ursprünglichen Kraftwerk-Mitglieder stehen hätte. Oder besser noch: virtuelle Klone von Florian Schneider, Karl Bartos und Wolfgang Flür wie die in London auftretenden Abbatare.
Elektroklänge überall
Und doch: Die musikalische Reise, die Kraftwerk vor 50 Jahren mit dem Geräusch eines startenden VW Käfers auf dem Album „Autobahn“ begannen und die sie sieben Jahre später in die „Computerwelt“ führte, liess die Band zu einem tatsächlichen Kraftwerk für die Zukunft der Popmusik werden. Welche andere Formation darf sich rühmen, so viele neue Musikgenres inspiriert zu haben? Von Synthiepop über Techno und House bis hin zu unzähligen weiteren Spielarten von Clubmusik – sie alle sind im Grunde nur Fussnoten zu „Trans Europa Express“. (Wobei man sich bei einigen dieser Electronica-Genres freilich fragen darf, ob sie denn wirklich nötig waren.)
Das wichtigste Verdienst von Kraftwerk aber ist der radikale Bruch mit dem seit den 1950er Jahren vorherrschenden Musikgenre Rock. Dabei sind die klanglichen Innovationen der Düsseldorfer noch das am wenigsten Grundstürzende. Sicher: Statt Gitarre, Bass und Schlagzeug nutzten Kraftwerk Synthesizer, Rhythmusmaschinen und Sequenzer. Auch verwarf die Band mit wenigen Ausnahmen die traditionellen formalen Elemente von Rocksongs wie Intro, Strophe, Chorus oder Bridge.
Aber der Anti-Rockismus von Kraftwerk reicht weiter, tiefer. Statt um die Individualität eines Mick Jagger oder Keith Richards ging es den Düsseldorfern um die Uniformität eines Kollektivs. Statt um die Virtuosität eines Jimmy Page oder Brian May um Minimalismus und Repetition. Statt um den Ausdruck authentischer Emotionen oder gesellschaftlicher Anliegen um abstrakte künstlerische Konzepte („Radio-Aktivität“).
All dies liess Kraftwerk in den 1970er Jahren zu den wahren Tötern von Rock-Dinosauriern wie den Rolling Stones oder Led Zeppelin werden, während angebliche Systemstürzer wie die Sex Pistols den klassischen Rock nur neu verpackten und so in Wahrheit wenig Neues schufen.
Vor allem aber: Indem Kraftwerk die kulturelle Dominanz der Rockmusik erfolgreich herausforderten, lebten sie nachhaltig vor, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, musikalische Identität zu gestalten – und dass elektronische Musik dabei eine entscheidende Rolle spielen kann.
In diesem Sinne mag zwar die Komposition „Musique Non-Stop“ von 1986 bei weitem nicht die beste der Band sein. Doch der Sprechgesang des letzten Ur-Kraftwerkers Ralf Hütter fasst das Vermächtnis der Düsseldorfer in maximaler Verdichtung zusammen:
Elektroklänge überall
Dezibel im Ultraschall
Es wird immer weitergehen
Musik als Träger von Ideen